Roger Jendly: Spielen – mit dem Ernst eines selbstversunkenen Kindes.

8. März 1938 –

 

Aufgenommen am 27. Oktober 2017 in Renens VD

http://www.plansfixes.ch/films/roger-jendly/

 

> Je länger das Gespräch dauert, desto deutlicher tritt eine Eigenschaft hervor, für die Luther beim Übersetzen des Paulus-Briefs an die Galater eigens ein Wort hat schaffen müssen: Sanftmut (5, 22). Diese Qualität kommt in der Welt fast nicht vor. Im Theater aber schon. Vor allem bei den Schauspielern – den grossen. Zu ihnen zählt Roger Jendly. <

 

Die meisten sanftmütigen Schauspieler haben gemeinsam: eine bescheidene, kulturferne Jugend. So betrieb Roger Jendlys Vater in Fribourg eine kleine Druckerei. Die Mutter besorgte das Büro und die Buchhaltung. Wenn es viel zu tun gab, mussten die Söhne in der Werkstatt aushelfen. Im übrigen wurden sie früh in den Senkel gestellt: «Ne fais pas l‘important!» (Mach dich nicht wichtig!) Das riefen die Lehrer in die Klasse, wenn den Buben der Kamm schwoll, und sie schrieben es auch mit roter Tinte ins Aufsatzheft.

 

Das Theater lernten die Kinder in Fribourg durch Verkleiden und Selberspielen kennen. Zuerst bei der Quartieranimation, dann bei der Pfadi. In diesem Bereich des Alberns und Ausprobierens, des Verstellens und So-Tuns-als-ob erfuhr Roger Jendly, noch bevor er sich verbeugen und Applaus entgegennehmen konnte, eine derart tiefe Befriedigung, dass ihm klar wurde: Das ist meine Welt! Da gehöre ich hin! Auch wenn die Familie sagte: Zuerst musst du etwas Anständiges lernen!

 

Mit fünfzehn, sechzehn Jahren erreichte ihn der Ruf zur Bühne. Roger Jendly kam seither nie ins Schwanken. Noch mit achtzig, zum Zeitpunkt der Aufnahme, denkt er nicht ans Aufhören. Was sollte er stattdessen tun? Geranien giessen? Enkel hüten? Wo doch das Leben im Theater stattfindet!

 

«Es führen viele Wege nach Rom, oder noch bestimmter: es gibt vielerlei Glück, und wo dem einen Disteln blühn, blühn dem andern Rosen. Das Glück besteht darin, dass man da steht, wo man seiner Natur nach hingehört. Selbst die Tugend- und Moralfrage verblasst daneben.» Das erklärte der hellsichtige Fontane dem Redakteur der «Westermanns Monatshefte», und seiner Frau schrieb er: «Ein guter Bettler ist gerade so viel wert wie ein guter König: alles ist nur Rolle, die durchgespielt wird.»

 

Weil es sich im Leben – und auf der Bühne – so verhält, braucht sich Roger Jendly im Gespräch nicht aufzuplustern. Er braucht nur zu sagen, was er mit wem gemacht hat. Die Namen der Regisseure von Theater und Film sind beeindruckend genug: > Benno Besson, Luc Bondy, Jorge Lavelli, Michel Piccoli, Jean-Luc Godard, > Alain Tanner, Claude Goretta, Michel Soutter ... Bei ihnen kam er zum Spielen. Das heisst: Durch ihre Produktionen kam er dazu, ein zweites, ein drittes, ein hunderstes... ein hundertachtzigstes Leben zu führen. Und in dieser Vervielfältigung möglicher Biographien quer durch alle Zeiten und Epochen hindurch liegt für die grossen sanftmütigen Schauspieler der Reiz des Theaters.

 

«Vielleicht kommt mir zugut, dass ich keine Persönlichkeit bin», erklärte mir der Dialektschauspieler Paul Born, als er in den 1980er Jahren durch ein Dutzend Fernsehaufnahmen landesweit bekannt geworden war. «Wissen Sie, wer eine Persönlichkeit hat, spielt im Leben eine Art Rolle. Und indem er jahrelang die gleiche Rolle spielt, kommen die Leute zum Schluss: Ja, der Herr X., der hat eine Persönlichkeit! Ich aber, ich habe keine Persönlichkeit; und dadurch kann ich leichter in die Haut eines andern schlüpfen.»

 

Paul Born ging es wie all seinen Kollegen. Sanftmut und Bescheidenheit sind für die Menschendarsteller Bedingung der Kunst: «Um in eine fremde Haut zu kommen, muss man die Menschen lieben», erklärte Paul Born (und an seiner Stelle könnten auch die Namen Gerd Voss, Robert Meyer, Martin Leutgeb oder Peter Uray stehen). «Eigentlich bin ich zu allen Leuten freundlich, auch zu denen, die ich nicht besonders mag. Ich schätze jeden, wie er ist, als Mensch. Auch einer, der ins Zuchthaus kam, hat seine gute Seite.»

 

Damit aber das Spiel bedeutend wird, braucht es noch, wie Roger Jendly in den «Plans Fixes» sagt, Verrücktheit und Humor. Beide Eigenschaften führen in die Tiefe des Menschlichen. Und sie machen seine Darstellung nicht bloss erträglich, sondern reizend und vielschichtig. Auf diese Weise kommen die grossen kaustischen Leistungen zustande, das heisst: Leistungen, die gleichzeitig scharf umrissen und gedrängt voll sind. 

 

«Der Franzel hinterm Ofen freut sich der Wärme um so mehr, wenn er sieht, wie sich draussen der Hansel in die rötlichen Hände pustet. Zum Gebrauch in der Öffentlichkeit habe ich jedoch nur Phantasienhanseln genommen. Man kann sie auch besser herrichten nach Bedarf und sie eher tun und sagen lassen, was man will», erklärte Wilhelm Busch, der in seinen Bildergeschich­ten  das groteske Theater vorweg genommen hat. «So ein Konturwesen macht sich leicht frei vom Gesetz der Schwere und kann, besonders wenn es nicht schön ist, viel aushalten, eh’ es uns weh tut.»

                                                                                               

Unter diesen Bedingungen werden Kunst, Film, Literatur und Theater zum Spiegel. Und in der Mischung von Grauen und Vergnügen liegt ihre Attraktivität. Dazu nochmals Wilhelm Busch: 

 

Max und Moritz machten beide,

Als sie lebten, keinem Freude;

Bildlich siehst Du jetzt die Possen,

Die in Wirklichkeit verdrossen,

Mit behaglichen Gekicher,

Weil du selbst vor ihnen sicher.

 

Im Gespräch mit den «Plans Fixes» streift Roger Jendly elegant über die Abgründe seiner Kunst, und durch ihn bekommen sie ein freundliches Gesicht. «Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.» (Matthäus 5, 5)

 

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