Ehrwürden Jean Eracle: Vom Kreuz zum Lotus.

11. Dezember 1930 – 9. September 2005.

 

Aufgenommen am 24. April 1994 in Genf.

http://www.plansfixes.ch/films/reverend-jean-eracle/

 

> Dass Ehrwürden Jean Eracle heute noch zu uns sprechen können, ist einem Unbekannten zu verdanken. Mit seiner „anonymen Spende“ hat er 1994 die Aufnahme für die „Plans Fixes“ ermöglicht. Im Film erzählt der Ordensmann, wie er vom Katholizismus zum Buddhismus kam; und das so lebendig, so liebenswürdig und so engagiert, dass er uns mitreisst. Ohne die Spende des Unbekannten aber wären Ehrwürden Jean Eracle für uns verloren. Und das wäre ein Verlust. <

 

Die Aufnahme entsteht in Genf, vermutlich in einer Wohnung. Die Kamera zeigt ein Zimmer, das zum Andachtsraum eingerichtet worden ist. Da ist eine Altarwand. Sie wirkt halb katholisch, halb buddhistisch; der Laie kann das nicht unterscheiden. In einer Ordenstracht – vielleicht katholisch, vielleicht buddhistisch, vielleicht synkretistisch (der Laie kann das nicht unterscheiden) – sitzen Ehrwürden Jean Eracle auf einem steifen hölzernen Stuhl, einer Art Thron.

 

Hat man sich in Bühnenbild und Kostüm zurechtgefunden, ist das erste, was einem auffällt, die skurrile Insektenbrille von Ehrwürden. Das Gestell stammt noch aus der vorvorvorderen Mode und steht damit in einem dialektischen Verhältnis zum Gesicht: Mit seinem eigenwilligen Design überdeckt es zwar die Züge, hebt sie aber, sozusagen in einem zweiten Schritt, auch wieder hervor, und man beginnt, immer stärker auf das eigentümliche Leuchten in Jean Eracles Augen zu achten, das nicht von der Brille kommt, sondern von innen.

 

Sobald Ehrwürden zu reden beginnen, geraten ihre Hände in Bewegung. Die Gestik erinnert an die runden, sanften Gebärden der katholischen Geistlichen, mit denen sie gleichzeitig Emotionen ausdrücken und herstellen. Eindrücklich ist die Parallelität, mit der die schönen, ausdrucksstarken Hände Gedankengänge in die Luft zeichnen: nicht Ausdruckstanz, sondern Spitzenballett. Die Choreographie zeigt an, dass da einer mit sich im Gleichgewicht ist – Yin und Yang, linke und rechte Hirnhälfte, Gefühl und Intellekt: Ehrwürden Jean Eracle haben ihre Mitte gefunden.

 

Das verraten auch die ersten Worte. Für die, die Ohren haben zu hören, zeigen sie an, dass da einer aus der Sammlung heraus spricht, und nicht aus dem Ungefähr, mit dem die unverbindliche, man könnte auch sagen: die oberflächliche Rede das Eigentliche verwischt, zudeckt, verbirgt – häufig auch, um zu verwischen, zuzudecken und zu verbergen, dass hinter dem Akt des Sprechens gar kein Eigentliches steckt.

 

Schon 1773 hat Johann Gottfried Herder die Sprache der Konvention kritisiert, die sich bemüht, „Leidenschaften zu erkünsteln, die wir nicht haben, Seelenkräfte nachzuahmen, die wir nicht besitzen – und endlich wurde alles Falschheit, Schwäche und Künstelei“. Wie anders reden Menschen, die bei sich sind: „Immer die Sache, die sie sagen wollen, sinnlich, klar, lebendig anschauend: den Zweck, zu dem sie reden, unmittelbar und genau fühlend: nicht durch Schattenbegriffe, Halbideen und symbolischen Letternverstand – durch all dies nicht zerstreuet: Noch minder durch Künsteleien, sklavische Erwartungen, furchtsamschleichende Politik [Berechnung] und verwirrende Prämeditation [Zurechtlegung] verdorben – über alle diese Schwächung des Geistes seligunwissend, erfassen sie den ganzen Gedanken mit dem ganzen Worte, und dies mit jenem. Sie schweigen entweder, oder reden im Moment des Interesses [d.h. wenn sie etwas zu sagen haben] mit einer unvorbedachten Festigkeit, Sicherheit und Schönheit, die alle wohlstudierten Europäer alle Zeit haben bewundern müssen, und – müssen bleiben lassen.“

 

Gesprächspartner von Jean Eracle ist ein Mann von besonderer Einfühlungsgabe. Jean-Marc Falcombello betrieb im ersten Programm von Radio Suisse Romande zwischen 1990 und 2010 eine Sendung, für die ein Teil der Westschweizer Intellektuellen das Frühstück und die Samstags­einkäufe verschob. Noch vor der Entdeckung der Langsamkeit befasste sich Marc Falcombello im Gespräch jeweils mit einem einzigen Gegenstand: etwa mit dem Funi von Freiburg i.Ü., der letzten mit Wasserballast betriebenen Standseilbahn der Schweiz, Fahrzeit 2 Minuten. Darüber machte Jean-Marc Falcombello eine Stunde mit dem Wagenführer im Auf und Ab seines Diensts. Eine andere Radiostunde brachte das Gespräch mit einem Künstlerpaar, das jeden Tag zur selben Zeit aus dem selben Fenster das obere Becken des Genfersees fotografierte. In einer weiteren Stunde beschrieb eine achtzigjährige Bäckersfrau, wie sie vor den Festtagen den Teig für die Anisbiskuits ihres Dorfladens herstellte und mit den Formen, die sie von den Grosseltern geerbt hatte, ausstach.

 

Mit dieser heute verlorenen Einlässlichkeit verfolgt nun Jean-Marc Falcombello im Gespräch mit Ehrwürden die Frage, wie es dazu kam, dass Jean, ein Kind aus dem Arbeitermilieu des Genfer Quartiers Eaux Vives, die Berufung empfing, Gott zu suchen. Wo lag der Punkt, an dem alles begann? „Ich war, glaube ich, elf oder zwölf Jahre alt“, erklärt im steifen Holzstuhl der 64-jährige mit seinen leuchtenden Augen. „Ich kam aus der Schule und sagte zur Mutter: Ich will Priester werden.“ „Und wie hat sie reagiert?“ „Sie antwortete: Dein Vater wird sich freuen! – Am selben Abend noch gab es einen Familienrat. Es ging um die Frage, wie man mir das Gymnasium zahlen könne. Denn wir waren arm.“

 

Von nun an verläuft Jean Eracles Lebensbahn in einer Linie, deren Folgerichtigkeit er rückblickend nur dankbar bewundern kann. Denn nicht er selber zog sie, sondern „es“, nein: „Er“. Der Weg führte vom katholischen Gymnasium von Genf ins Kloster von St-Maurice und von dort nach Indien und Japan in den Buddhismus.

 

Jean Eracle will die Aufnahme nicht beenden, ohne ein Gebet Buddhas zu sprechen mit der Bitte um Frieden und Glück für alle Lebewesen. Die Kamera zeigt ihn bei der Rezitation von hinten und vorn. Aus einer schwarzen Schale steigt leichter Opferrrauch auf. In Nahaufnahme blickt man ins Gesicht eines Versunkenen, der nicht mehr „hier“ ist, sondern „dort“. Die Stimme wird immer leiser. Jetzt ist sie unhörbar.

 

Ohne die Gabe eines anonymen Spenders wüsste heute niemand mehr etwas von Jean Eracles Bitte um Frieden und Glück für alle Lebewesen. Nun aber wirkt sein Segen weiter und erreicht alle, die sein Porträt in den „Plans Fixes“ anklicken.

 

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