Jacqueline Berenstein-Wavre: Die Sache der Frau.

26. Dezember 1921 –

 

Aufgenommen am 10. August 1993 in Genf.

Jacqueline Berenstein-Wavre – Association Plans Fixes

 

> Mit 49 hat Jacqueline Wavre noch geheiratet; den Genfer Jus-Professor und späteren Bundesrichter Alexandre Berenstein: „Kinder haben wir keine bekommen. Dafür haben wir zusammen Artikel 4 [heute: 8.3] der schweizerischen Bundesverfassung zur Welt gebracht: ‚Mann und Frau sind gleichberechtigt. Das Gesetz sorgt für ihre rechtliche und tatsächliche Gleichstellung, vor allem in Familie, Ausbildung und Arbeit. Mann und Frau haben Anspruch auf gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit.’“ <

 

Der Gleichstellungsartikel, den Alexandre und Jacqueline Berenstein-Wavre miteinander entworfen hatten, brauchte zehn Jahre, um in die Schweizer Verfassung zu kommen. Am 14. Juni 1981 genehmigte ihn das Volk, sechs Monate vor Jacquelines sechzigstem Geburtstag.

 

Zwölf Jahre später, also mit 71, wurde die Aktivistin unter die Persönlichkeiten der „Plans Fixes“ aufgenommen. Immer noch setze sie sich für die Sache der Frau ein, sagte sie damals der Kamera.

 

Und in der Tat: Die ehemalige sozialistische Präsidentin der Genfer Stadt- und Kantonsparlamente führte ihre Tätigkeit für die Zeitschrift „Femmes Suisses“ (heute: „l’émiliE“) zwanzig Jahre lang weiter, bis 2012. Noch heute ist sie Aktivmitglied der „Femmes pour la paix“ in Genf und Präsidentin des Patronatskomitees (comité d‘honneur) des „Geneva International Peace Research Institute, GIPRI“. Am 26. Dezember 2020, also vor zwei Wochen, feierte sie ihren 99. Geburtstag. Auf Facebook konnte man/frau ihr gratulieren.

 

Den Auslöser für ihr Engagement gaben zwei Erlebnisse in der Genfer Fabrik, die Nähmaschinen der Marke Elna zusammensetzte. Die junge Frau arbeitete während zwei Jahren an der Werkbank. Wenn sie die Toilette aufsuchen wollte, musste sie einen Holzreifen holen und ihn für alle sichtbar durch die Halle tragen. Das war schon entwürdigend genug. Doch dann kam die Antwort des Meisters auf die Frage, ob er ihr Grundgehalt nicht anheben könne, sie gehöre ja zu den besten Arbeiterinnen: „Mademoiselle, für die Erhöhung des Grundgehalts haben Sie die Nächte!“

 

Das veranlasste Jacqueline Berenstein, in die sozialistische Partei einzutreten, die sich als einzige für die Sache der Frau einsetzte. Wenn man sie erzählen hört, ist nachvollziehbar, dass sie es daraufhin an die Spitze der beiden Genfer Parlamente und ins Präsidium des Bundes Schweizerischer Frauen­organisationen schaffte: Sie brachte mit ihrer mitreissenden Art die Menschen hinter sich.

 

Humor spielt eine Rolle; also die Fähigkeit, sich und die Verhältnisse nicht verbissen ernst zu nehmen, sondern in geselliger Runde immer wieder aufs befreiende Lachen zusteuern zu können. Mit Augenzwinkern erzählt sie, wie es zuging, als sie im Frühling 1963 ihren Deux-Chevaux auf dem Parkplatz des Genfer Rathauses abstellte. Sie gehörte zu den ersten Frauen, die in den Genfer Stadtrat gewählt worden waren. Um den Amtseid an der Eröffnungssitzung in gebührender Form zu leisten, hatte sie sich festlich angezogen. Nun begrüsste sie der Parkwächter mit den Worten: „Ah, Sie sind die neue Buffetaushilfe!“ Und die Moral von der Geschicht’? „Man darf sich nicht zu ernst nehmen!“

 

Jacqueline Berenstein kann nicht nur gut erzählen, sondern auch gut erklären. Mit wenigen Worten versteht sie es, Verhältnisse plastisch zu umreissen. Die Sprache ihrer Hände stellt die Dinge klar und nachvollziehbar vors Auge. Naheliegend, dass sie gern unterrichtete, und zwar nicht bloss Grosskopfete, sondern Berufsleute, Verkäuferinnen, Verkäufer. Sie war sich auch nicht zu vornehm, im Kampf für ihre Anliegen die Arbeiter­gaststätten aufzusuchen. Die Gespräche mit den einfachen Leuten bildeten eine gute Schule, um mit Wärme und Zugewandtheit zu argumentieren.

 

Ablernen konnte sie diese Haltung von ihrem Onkel. Der ledige, damals etwa dreissigjährige Mann liebte es, die Ferien in der Familie des Bruders zu verbringen und mit den beiden Nichten herumzutollen. „Es war spannend mit ihm“, erzählt Jacqueline. „Er hatte tausend Ideen.“ Romain-Louis Wavre hatte im Jahr ihrer Geburt mit 24 an der Universität Genf promoviert. Ein Jahr später war er schon ausserordentlicher Professor für Mathematik. 1934, Romain-Louis war 37, wurde er befördert zum Ordinarius. Er schrieb „Die Vorstellung der Wirklichkeit, die Erfindung und Entdeckung in der Wissenschaft der Zahlen“ (L’imagination du réel, l’invention et la découverte dans la science des nombres) und „Die vergnügliche Logik“ (La logique amusante), ein Titel, der auch Jacqueline Berensteins Denkstil charakterisiert.

 

Es geht ihr darum, dass jeder Mensch, unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder Hautfarbe, sich selbst realisieren kann. Er muss nicht mit einem Programm, nicht mit einer Vorstellung, nicht mit einer Ideologie übereinstimmen, sondern mit sich. Darum hat es für Jacqueline Berenstein nichts Beschämendes, wenn sich eine Frau entscheidet, für Kinder und Haushalt zu leben, vorausgesetzt, dass sie dabei respektiert wird.

 

Quadratur des Zirkels: Trotz des Engagements für die Sache der Frau und des Friedens findet man bei Jacqueline Berenstein-Wavre dieselbe Offenheit und Elastizität des Geistes wie bei ihrem Altersgenossen Kurt Marti. Der Pfarrer und Schriftsteller wurde am 31. Januar 1921 geboren. 1995 schrieb er „Im Sternzeichen des Esels“:

 

Fragen bleiben jung. Antworten altern rasch.

 

An manchen Tagen fressen die kleinen die grossen Fragen auf. An anderen Tagen verschlingen die grossen Fragen die kleinen. Doch hinterher stellt sich nicht selten heraus, dass die kleinen grosse, die grossen kleine Fragen waren.

 

Und wie nun komme ich über meinen Ichberg zu dir?

 

Jacqueline Berenstein weiss wie.

 

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