Noël Constant: Eine Utopie in Bewegung.

24. Dezember 1939 –

 

Aufgenommen am 10. April 2017 in Genf.

Noël Constant – Association Plans Fixes

 

> In Frankreich hat Noël Constant selber Kindheit und Jugend auf der Strasse verbracht. Er war ein Ausreisser; liess sich nicht bändigen. Er kam später nach Genf; traf Menschen, die nichts zum Leben hatten und im Freien schliefen. Er nahm sich ihrer an; schuf Lebenspunkte unter dem Namen Carrefour-Rue. Jeden Tag die Ärmel hochkrempeln. Das ist Noël Constants Utopie in Bewegung. <

 

Genf: eine der reichsten, aber auch teuersten Städte der Welt. Für viele ein Anziehungspunkt – und ein Ort der Illusionen: „Wenn Jakob die gewaltigen Häuser, die Paläste sah, die Equipagen, die herrlichen Kaufläden, so schmolz ihm ordentlich das Herz und löste in lauter goldene Hoffnungen sich auf.“ Mit diesen Worten beschreibt Jeremias Gotthelf in seinem Emmentaler Pfarrhaus den Einzug eines biederen deutschen Handwerksgesellen in die Rhonestadt.

 

Und mit dem Datum „Lützelflüh, den 28. Jenner 1846“ beendet er das Vorwort zu „Jakobs Wanderungen“:

 

Schliesslich bemerkt der Verfasser noch vorzüglich zuhanden allfällig neuer Leser, dass er nicht um Gunst und Gnade schreibt, sondern für das Volk, unbekümmert, schmecke es dem Volke süss oder bitter; er hält alle Schmeichler für niederträchtige Kreaturen, für den allerniederträchtgsten unter den Niederträchtigen aber den Volksschmeichler.

 

In Genf nun lässt der Dichterpfarrer den naiven Handwerksgesellen auf die Welt kommen:

 

Jakob hatte gar nichts mehr als was er am Leibe hatte, fort war auch das Felleisen, und ohne Felleisen solle er ihr nicht wiederkommen, hätte die Grossmutter gesagt, meinte er, also auch heim durfte er nicht! Da ergriff ihn eine unendliche Trostlosigkeit, so alleine auf der Welt, nirgends mehr ein Heim, keinen Vater über den Sternen, keine freundliche Stätte auf Erden, keine Kraft in den Gliedern, keinen Mut in der Seele!

 

So arm und schlotternd zog er aus dem reichen Genf, in welchem achtzig Millionärs wohnen sollen, und keiner stand in bitterm Winde unter der Haustüre, passte auf den armen Jakob, führte ihn ans helle Feuer und beherbergte ihn, solange es Jakob wohlgefiel.

 

Heute würde Jakob in Genf von Noël Constant angesprochen. Der Mann, der weiss, wie es ist, wenn man sich auf der Strasse durchschlagen muss, würde ihn „ans helle Feuer“ führen und beherbergen „solange es ihm wohlgefiel“. Denn wichtig sind Wärme, Zuwendung, Gemeinschaft. Die hat Noël Constant geschaffen, durch fünfzig Jahre hindurch, in geduldiger Arbeit, von unten herauf.

 

Noël Constants Notschlafstelle heisst La Coulou. Dort bekommt Jakob ein Nachtessen und ein Frühstück. Die Aufenthaltsdauer ist nicht begrenzt. Im Unterschied zu den üblichen Sleep-ins können die Pensionäre winters auch tagsüber am Warmen bleiben. Die Gemeinschaft regelt sich mit Unterstützung zweier Sozialarbeiter selbst. In La Coulou gibt es einen „Espace Femmes“, der auch Müttern mit Kindern offensteht.

 

Hinter dem Bahnhof bekommt Jakob Tag für Tag gratis ein warmes Mittagessen im Jardin de Monbrillant. So heisst das Lokal, das auf Noël Constant zurückgeht. In normalen Zeiten finden sich dort täglich 250 Menschen an den langen Tischen ein. 300 Freiwillige pro Jahr arbeiten mit. Sie servieren „Suppe oder Salat, Hauptspeise mit Fleisch oder Fisch, Dessert und eine Frucht, Kaffee“.

 

Wenn abgeräumt ist, können die Bedürftigen an der Wärme sitzen bleiben, solange es ihnen gefällt. Denn ebenso wichtig wie das tägliche Brot sind Zuwendung und Gemeinschaft.

 

Jakob kann sich dann mit einem Stapel „Feuille de trèfle“ (der Titel zeigt ein vierblättriges Kleeblatt) in einen geheizten Warenhauseingang stellen und den Passanten die Obdachlosenzeitung anbieten. Pro verkauftes Exemplar gibt er der Organisation einen Franken ab. Den Rest kann er behalten. Die Texte entstehen im „Atelier d‘écriture“. Jeden Dienstag zwischen 14 und 17 Uhr erfolgt der Austausch mit schreibenden Kollegen und Profis.

 

Falls Jakob im Schriftverkehr nicht gewandt ist, kann er sich an einen öffentlichen Schreiber wenden, auch er ein Freiwilliger. Er hilft beim Abfassen, Korrigieren und Layouten von Briefen geschäftlichen, behördlichen oder privaten Inhalts (Ausnahme: Rechtssachen).

 

Da der Raum in Genf knapp ist, kam Noël Constant auf den Gedanken – wiederum mit Hilfe Freiwilliger –, fahrbare Tiny Houses zu entwickeln, die sich schnell aufbauen und wieder verschieben lassen. Nun poppen auf dem Stadtgebiet immer wieder kleine Dörfer als Zwischennutzung von Brachland auf. Terrainbesetzung statt Hausbesetzung.

 

Wichtig ist es bei Carrefour-Rue, in Bewegung zu bleiben. „Die Not hat alle zehn Jahre ein anderes Gesicht“, erklärt Noël Constant im Film der „Plans Fixes“. „Darum muss man die soziale Arbeit alle zehn Jahre neu erfinden.“ Und am Telefon sagt der 81-jährige, immer noch auf Draht: „Meine Frau und ich zählen die Jahre nicht mehr.“

 

Vor zweihundert Jahren schloss der Dichterpfarrer in Lützelflüh „Jakobs Wanderungen“ mit einer Betrachtung ab:

 

Ist es nicht süss, daheim zu sein, die Heimat wieder ergriffen zu haben, nun ruhen und weilen zu können unter sicherm Obdach, am folgenden Morgen nicht auf die Strasse zu müssen, nicht wissend, wo man am Abend sein Haupt niederlegt? Auch dies ist ein Vorgeschmack des Himmels. Es sehnt sich unser Geist nach einem Festen und Bleibenden, nach einer Heimat, wo kein Wandern, kein Wechsel mehr ist, wo man nicht mehr Pilger und Fremdling ist, sondern Bürger im von Gott erbauten Reiche. Heil allen, welche jenseits die wahre Heimat suchen und diesseits ein freundlich Heim finden mit dem Vorgeschmack des jenseitigen! Möchten alle, die wandern gehen, heimkehren christlich und ehrenwert, diesseits eine freundliche Stätte finden, Pfand und Siegel der festen und bleibenden im Himmel!

 

Jenseits aller Religionen tun Noël Constant und seine Organisation Carrefour-Rue hier im Diesseits, was möglich ist, damit die Notleidenden in Genf „eine freundliche Stätte finden“. Sie verwirklichen damit den Traum von Mildtätigkeit, den Gotthelf bei Jakobs Grossmutter am Werk sah:

 

Wenn ein Armer kommt und bittet um eine Gabe, so schneidet sie ein Stück Brot ab, dass man einen Türken damit totschlagen könnte, und denkt an Jakob und bittet, dass Gott auch an ihn denken möchte in der Fremde und es ihm nicht fehlen lasse an dem, was der Leib bedarf. Und wenn ein Handwerksgeselle anklopft, so fragt sie nach Bericht, wärmt Suppe und kocht ein gutes Gericht und bittet Gott, dass er solche Guttat dem Jakob zugut kommen lassen möchte.

 

Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich gespeist. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich getränkt. Ich bin ein Fremdling gewesen, und ihr habt mich beherbergt. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich bekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin gefangen gewesen, und ihr seid zu mir gekommen. – Wahrlich ich sage euch, was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. (Matthäus, Kap. 25)

 

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