Roland Deville: Bühnenbildner.

5. März 1936 – 1. August 2019.

 

Aufgenommen am 1. April 2016 in Genf.

Roland Deville – Association Plans Fixes

 

> Gegen fünfhundert Bühnenbilder hat Roland Deville entworfen; meist auch die Kostüme dazu. Als ihn das Filmteam der „Plans Fixes“ besucht, ist er achtzig; hat aber die Offenherzigkeit eines Kindes bewahrt. Darum denkt er nicht ans Aufhören: „Ich habe den Rückspiegel abgebrochen.“ <

 

Mit zwanzig Jahren hat Roland Deville ein letztes Mal angegeben und gelogen. Dann begann ein neues Leben. Es wurde ihm, wie allen Wiedergeborenen, geschenkt. Er brauchte nichts dafür zu tun, oder doch nur sehr wenig. Er musste bloss noch in allem, was er tat, der Wahrheit nachgehen. Diese Suche machte ihn gleichzeitig unverstellt und sensibel. Aus diesem Grund wirkt jetzt der achtzigjährige Bühnenbildner während der Filmaufnahme limpid wie ein Kind.

 

Die Lüge, die er mit zwanzig ausgesprochen hatte und die ihm, wie sich bald darauf zeigte, das Leben gerettet hat, war dadurch zustande gekommen, dass er bis dahin nicht hatte angeben können, was es aus ihm geben solle. Berufswunsch hatte er keinen. Interviewer Patrick Ferla kann’s nicht glauben und insistiert: „Aber etwas wollten Sie doch werden!“ Roland Deville, fast trotzig: „Mich.“

 

Aber was heisst das, wenn man sich selber nicht kennt? Roland Deville stammt aus der Pariser Banlieue. Ein einfaches Elternhaus. Keine Kultur, keine Bücher. Man kommt gerade so durch. Elterliche Liebe? Davon spricht man nicht: „Iss deine Suppe!“ Ferla: „Und? War sie gut?“ Deville: „Ja. In der Regel schon.“

 

Ab 1941 werden die Pariser Kinder aufs Land verteilt; zum Schutz vor Bombardierungen. Die Bauernfamilie, bei der Roland Deville unterkommt, entspricht dem Klischee. Sie ist, wie in den „Misérables“, hart und bäurisch. Am Tag der Ankunft wird der Sechsjährige gleich auf die Weide geschickt. Zum Hüten. „Und dabei habe ich vorher noch nie eine Kuh gesehen!“

 

Nach der Schulzeit bringt sich Roland Deville in Paris mit Gelegenheits­arbeiten durch. Unter anderem als Tänzer – in den Shows für amerikanische Touristen. Und er gerät in schlechte Gesellschaft. „Ich habe nicht gestohlen und nicht getötet“, beteuert er. Aber fürs Gefängnis reichte es trotzdem. Zweimal.

 

Nach der zweiten Entlassung wird Roland Deville gleich in die Armee gesteckt und nach Algerien verfrachtet. Er kommt an einem vorgeschobenen Posten zu den Spähern. Was das bedeutet? „Beim Vorrücken immer hundert Meter vor der Truppe.“ Da lernt er töten: „Es ging ums Überleben, nichts weiter. Der andere war fünf Meter vor mir. Er hatte mir nichts getan, ich kannte ihn nicht. Aber die Frage war: Er oder ich?“

 

Im Camp gibt es Inspektion durch einen Obersten, später General. Leutselig fragt er: „Was machen Sie im Leben?“ Ohne zu wissen, woher ihm die Eingebung kommt, formuliert Roland Deville seine alles entscheidende, lebensrettende Lüge. Er bezeichnet sich als Dekorateur. „Oh, das trifft sich gut“, entgegnet der Oberst. „In Kürze kommt der General mit seiner Frau zu mir auf Besuch. Ich werde Sie brauchen, um das Schlafzimmer einzurichten.“ Die Inspektion ist zuende. Der Kommandant fliegt davon. Der Dienst geht weiter. Doch nach zwei Wochen landet ein Helikopter, um Roland Deville abzuholen. Der Transfer wird zum Flug in ein neues Leben.

 

Noch nie hat sich Roland Deville mit Ausstattungsfragen beschäftigt, noch nie eine Nähmaschine betätigt. Aber jetzt steht er vor der Aufgabe, einen immensen Vorhang zuzuschneiden und dekorativ um eine Stange zu wickeln. Der Erfolg ist nicht überwältigend. Immerhin bleibt Deville beim Kommando und braucht nicht mehr ins Feld zurückzukehren. Zu seinem Glück. Denn zwei Wochen später vernimmt er, dass seine frühere Einheit überfallen und aufgerieben worden ist bis auf den letzten Mann.

 

Am Ende der Militärdienstzeit bleibt er in Algerien. Und obwohl er noch nie gezeichnet hat, zeichnet er jetzt Plakate für ein Dokumentarfilmstudio. Das Leben hat seine Richtung gefunden: Vorwärts, vorwärts. „Ich habe Heimweh nach der Zukunft“, sagt Roland Deville im Film. Nie stehenbleiben. Das Neue erobern.

 

So meldet er sich nun, mit 0.5 Prozent Theatererfahrung, in Strassburg beim späteren Théâtre national zur Ausbildung als Bühnenbildner. Der Lehrer hebt bedauernd die Achseln: „Das Interesse war zu gering. Der Lehrgang ist nicht zustande gekommen. Doch wenn Sie schon da sind: Nehmen Sie dieses Theaterstück mit und bringen Sie mir in sechs Wochen einen Entwurf für das Bühnenbild und die Kostüme.“

 

Mit diesem Probestück kommt Roland Deville, ausserhalb des Curriculums, in die Lehre. Zweieinhalb Jahre später – sechs Monate vor Ablauf der regulären Studienzeit (oh, Bologna!) – steht er schon fertig in der Praxis. Er ist 26 und Preisträger der Pariser Biennale. Er übernimmt als Professor übergangslos die Strassburger Bühnenbildnerklasse und beginnt, für Oper und Schauspiel in Frankreich, Deutschland und Belgien Ausstattungen zu entwerfen.

 

Zehn Jahre später verlegt er, seiner Frau, einer Schweizerin, zuliebe, den Lebensmittelpunkt nach Genf. Hier arbeitet er für die Comédie, das Théâtre de Carouge, das Nouveau Théâtre de Poche, das Grand Théâtre und das Théâtre de Vidy. Im Schnitt zehn Produktionen pro Jahr. So kommt Roland Deville am Ende auf die beeindruckende Zahl von rund fünfhundert Bühnenbildern.

 

Weiter, weiter, weiter. Je älter er wird, desto jünger werden, im Vergleich zu ihm, die Theaterleute. Sie bringen ständig neuen Wechsel der Ansichten. Und Roland Deville steht vor der Aufgabe, ständig neue Räume zu schaffen, in denen die Vorstellungen den besten, das heisst den richtigen, das heisst den stimmigen, das heisst den wahren Ausdruck finden.

 

Ohne Offenheit und Empfangsbereitschaft geht das nicht.

 

Ich wollte, dass ich mich alles entwöhnen könnte, dass ich von neuem sehen, von neuem hören, von neuem fühlen könnte. Die Gewohnheit verdirbt unsere Philosophie [= Weltanschauung].

 

Die Karriere des Bühnenbildners Roland Deville hat den Traum des Göttinger Physikprofessors Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) realisiert.

 

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