Albert Mermoud: Verleger, Gründer der Guilde du livre.

24. Mai 1905 – 18. März 1997.

 

Aufgenommen am 30. Januar 1986 in Lausanne.

Albert Mermoud – Association Plans Fixes

 

> Diesmal besuche die Kamera das Wohnzimmer des Prominenten „auf vielfachen Wunsch des Publikums“ , erklärt Bertil Galland, der Interviewer, zu Beginn der Aufnahme. Die Zuschauer wollten endlich den Mann kennenlernen, der bisher hinter seinem Werk verborgen geblieben sei. Das Werk: La Guilde du livre. Und der Mann: Albert Mermoud. <

 

Zierlich und auch leicht geziert kommt einem der 81-jährige Mann im Film entgegen. Sein magerer Körper sinkt tief in die Polsterung des extraweichen Sofas ein. Für die Aufnahme trägt er Hemd und Krawatte (ist wohl nie anders aufgetreten); darüber einen dunklen Blazer mit silbernen oder goldenen Knöpfen (ist bei Schwarz-Weiss-Filmen nicht zu entscheiden). An den Fingern hat er einen, vielleicht zwei beeindruckende Zierringe; sie kommen indes selten ins Blickfeld, weil Albert Mermoud die Hände beim Reden im Schoss behält; da kneten sie einander animiert, während oben der Mund spricht. Der Mann will ruhig scheinen, ist aber in Wirklichkeit nervös, sagt dazu der Körpersprachler.

 

Doch Albert Mermoud besteht das Examen glänzend. Gutwillig und beredt gibt er Auskunft über sich, sein Leben und sein Werk – nachdem er sich bisher stets im Hintergrund gehalten hat und die andern hat sprechen lassen – die Schriftsteller zunächst, dann auch die Cineasten. – Im Alter von 31 Jahren gründete er 1936 La Guilde du livre, und 1948, im Alter von 43 Jahren, zusammen mit ein paar Gesinnungs­genossen, die Cinémathèque Suisse. Bei beiden Institutionen ging es Albert Mermoud darum, das Werk jener andern, die ihn durch ihre künstlerische Begabung überragten, in Erscheinung treten zu lassen.

 

Seine Bescheidenheit geht vielleicht darauf zurück, dass er in Neuenburg als Sohn eines Metzgers aufgewachsen ist und dass er die schönsten Kindertage in Savoyen verbracht hat, der Herkunftsgegend seiner Mutter. Mit Wärme beschreibt er das abgelegene Dorf, in dem er bei den Verwandten Ferien machte: ein paar Häuser am Rand der Strasse; achtzig Einwohner; kaum Durchgangsverkehr; kein Laden; ab und zu der Besuch eines italienischen Hausierers – das Ereignis der Woche.

 

Drei Unglücksfälle veränderten Albert Mermouds Leben. Der erste ereignete sich in Savoyen. Beim Spielen durchstach er sich den Oberschenkel. Ein Zweig brach ab und blieb im Fleisch stecken. Da es im Dorf keinen Telefonapparat gab, und auch kein Automobil, kam eine Base auf den Gedanken, einen Kinderwagen umzurüsten. Sie befestigte auf ihm ein Brett, um den Verletzten nach Annecy zum Arzt bringen zu können. Der Weg dauerte zwei Stunden. Doch dann vernahm sie: „Wir können nichts machen. Der Junge muss nach Genf zur Operation.“

 

Der Eingriff gelang. Später aber bildete sich eine Schwellung. Sie wurde irrtümlich als Tuberkulose diagnostiziert. (Zweiter Unglücksfall.) So kam Albert für ein Jahr ins Spital, wo er mit Tuberkulin behandelt wurde, und anschliessend für anderthalb Jahre zur Kur nach Leysin. Notgedrungen lernte er, ein Leben im Geist zu führen. Das stärkte ihn.

 

Zurück in Neuenburg gelang ihm der Übertritt ins Gymnasium. Er wählte die humanistische Richtung mit Griechisch und Latein (wie die meisten Persönlichkeiten, die es in die „Plans Fixes“ schafften). Dann erwarb er zwei Lizenziate an der Universität: eines in Jus und eines in Ökonomie. Sie ermöglichten ihm, sich in Angers bei einem KMU um zwei Posten zu bewerben: kaufmännische Direktion und Leitung der Publizität: „Wenn ich mich nicht bewähre, können Sie mich fristlos kündigen.“

 

Einsatzwille, Tüchtigkeit und Erfolg weckten den Neid der Gleichaltrigen. Nach sechs Jahren brachte eine Bagatelle das Fass zum Überlaufen. Albert Mermoud bekam aus Zorn über die Machinationen eines Konkurrenten die Gelbsucht. Dritter Unglücksfall. Jetzt war er wieder ans Bett gefesselt. Aus Langeweile griff er ins Bücherregal und zog Maxim Gorkis Jugenderinnerungen hervor. – Dazu Manfred Grunert:

 

Der unerschöpfliche Reichtum an mit wenigen Worten einprägsam gezeichneten Bildern und Gestalten, an Beobachtungen, Erlebnissen und Episoden macht dieses Buch zu einem Spiegel des russischen Kleinbürgerlebens schlechthin. Trotz der Überfülle des Mitzuteilenden ist Gorkis Sprache von vollkommener Einfachheit. In ihrer schlichten Schönheit, Wahrhaftigkeit und künstlerischen Makellosigkeit bedeutet die Autobiographie einen Höhepunkt in seinem Schaffen.

 

Die Lektüre von „Meine Kindheit“ (Detstvo) brachte die Wende. Albert Mermoud beschloss, einen Bücherring zu gründen – den ersten im französischen Sprachraum –, um Texte solcher Qualität unters Volk zu bringen. Dafür kehrte er in die Schweiz zurück und liess sich in Lausanne nieder. „Warum ausgerechnet Lausanne? Sie stammten doch aus Neuenburg!“, will Bertil Galland wissen. „Um Ramuz nahe zu sein“, antwortet Albert Mermoud. Der Grösste der Westschweizer Dichter sollte den Grundstein zum Unternehmen legen helfen. Und siehe, er war nicht abgeneigt. Unentgeltlich stellte er das Manuskript zu seinem Roman „Derborence“ zur Verfügung, unter der Bedingung, dass damit kein Gewinn gemacht werde.

 

Diese Kautel deckte sich mit dem Zweck der Guilde du livre: Höchste Qualität zu niedrigsten Preisen. 85 Rappen kostete die Eintrittsgebühr. Danach erhielten die Mitglieder für einen Monatsbeitrag von 1.35 Fr. monatlich ein Literaturmagazin, in dem die Dichter selbst über ihre Werke schrieben. Und alle drei Monate kam gratis ein Buch ins Paketfach. Aber nicht bloss ein billiges Taschenbuch, gedruckt auf schlechtem Papier, welches man vor dem Lesen noch aufschneiden musste, und so schludrig gemacht, dass das Bändchen bei der Lektüre zerfledderte und man es am Ende wegschmiss; sondern die Büchergilde verschickte gebundene und geschnittene Werke in festen Einbänden. Man konnte die Titel aufbewahren oder weitergeben oder wiederlesen. Man konnte sie dazu verwenden, eine eigene Bibliothek anzulegen.

 

43 Jahre lang betrieb Albert Mermoud die Büchergilde. In ihren besten Zeiten hatte sie 98’000 Mitglieder (davon zwei Drittel im Ausland). Dann machten ihr der starke Franken, der Neid der Konkurrenz und die PTT den Garaus: Die Post betrachtete das Literaturmagazin unversehens als Werbebroschüre und verlangte ein sechsmal höheres Porto. Am 31. Januar 1978 verkaufte Albert Mermoud das Unternehmen an France Losirs. Er war 72 Jahre alt und hatte über tausend Titel verlegt.

 

Tempi passati. Vorgestern hatte ich einen diplomierten Architekten ETH zu Besuch. Nächstes Jahr wird er siebzig. Er werde jetzt, sagte er, die Bücher aus dem Haus räumen. Sie würden nur Platz wegnehmen, und wenn man sie gelesen habe, stünden sie bloss herum.

 

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