Mario Baggiolini: Insektenforscher, Dr. h.c. – Wissenschaft und Natur.

4. Dezember 1914 – 11. November 2005.

 

Aufgenommen am 23. Dezember 1991 in Nyon.

Mario Baggiolini – Association Plans Fixes

 

> Mit 77 Jahren hat Mario Baggiolini immer noch die Ausstrahlung eines folgsamen Tessiner Kinds, das in der Natur aufgewachsen ist und von früh auf an Anspruchslosigkeit gewöhnt wurde. Doch am Ende der Karriere erhielt er von der ETH Zürich den Ehrendoktor. Denn als Vater des Labels IP hatte er das Zusammenspiel von Wissenschaft und Praxis zugunsten einer gescheiten, das heisst integrierten landwirtschaftlichen Produktion in Gang gebracht. <

 

Mario Baggiolinis Mutter war Italienerin, der Vater Schweizer. Die Familie wohnte in Chiasso nah an der Grenze. 1919, Mario war fünf, starb der Vater. Die Mutter versuchte noch zwei Jahre, sich und die vier Kinder durchzubringen. Dann zog sie an ihren Herkunftsort, ein kleines, bescheidenes Bauernhaus über Luino am Langensee. In dieser steilen, wilden, geheimnisvollen, faszinierenden Gegend schlug Mario Wurzeln. Am Ende war ihm klar, dass seine Berufung im Landbau liege und dass er dafür die Tessiner landwirtschaftliche Schule besuchen müsse.

 

Doch das Wissen, das er von dort zurückbrachte, liess sich auf dem heimischen Boden nicht umsetzen. Die Erde war zu trocken und zu karg. Mario stellte deshalb das Gelernte den Landbesitzern unten am Ufer zur Verfügung; pflegte und veredelte deren Obstbäume. Aber die geliebte Arbeit warf wenig ab: „Wirtschaftskrise“, bemerkt Mario Baggiolini. In dieser Zeit geriet er ins Visier der Faschisten. Sein Häuschen stand in der Nähe der Grenze. Wer in der Schweiz Zuflucht suchte (Oppositionelle, Juden), fand dort Unterschlupf und Aufnahme.

 

Doch neben dem Netz der Männer gab es das Netz der Frauen. Und die hielten es nicht mit dem Duce. Eines Tages kam eine Nachbarin angerannt: „Mario, Mario! Du musst sofort verschwinden! Sie kommen dich holen!“ Schon fuhr eine Autobesitzerin vor und brachte den 29-jährigen zur Grenze: „Dort rechts hinauf! Alles Gute!“ Auf der anderen Seite stand ein bewaffneter Grenzwächter. Mario Baggiolini streckte ihm den Schweizer Pass entgegen. Der Mann lachte auf und führte ihn ins Hinterland. Bei den Tessiner Verwandten war die Aufnahme herzlich. Doch die Freude dauerte nur kurz, dann kam Mario ins Gwändli, das heisst in den Dienst der Landesverteidigung.

 

Nach dem Krieg begann seine zweite Karriere: Er fand eine Anstellung beim Tessiner Landwirtschaftsamt. Da kam ihm zugute, dass er ein genaues Auge hatte, einen guten Kopf und eine geschickte Hand: Er durfte Insekten zeichnen. Mit diesen Abbildungen liessen sich die Schädlinge erfassen und katalogisieren, die dem Wein- und Obstbau zu schaffen machten, und durch sie kam Mario Baggiolini bald weiter an die eidgenössische Forschungsanstalt Changins.

 

Die Zeichnung ist der Fotografie durch einen Umstand überlegen, mit dem sich Goethe lange beschäftigt hat:

 

Der Blick auf die Oberfläche eines lebendigen Wesens verwirrt den Beobachter, und man darf wohl hier, wie in anderen Fällen, den wahren Spruch anbringen: „Was man weiss, sieht man erst!“ – Also liegt eigentlich in der Kenntnis die Vollendung des Anschauens.

 

Ja, das Äussere soll der Künstler darstellen! Aber was ist das Äussere einer organischen Natur anders als die ewig veränderte Erscheinung des Innern? Dieses Äussere, diese Oberfläche ist einem mannigfaltigen, verwickelten, zarten, inneren Bau so genau angepasst, dass sie dadurch selbst ein Inneres wird, indem beide Bestimmungen, die äussere und die innere, im ruhigsten Dasein sowie in der stärksten Bewegung stets im unmittelbarsten Verhältnisse stehen.

 

Der Künstler, der an der Oberfläche nur herumkrabbelt [wie der Fotograf], wird dem geübten Auge immer leer, obgleich bei schönem Talente immer angenehm erscheinen; der Künstler, der sich ums Innere bekümmert, wird auch das sehen, was er weiss, er wird, wenn man will, sein Wissen auf die Oberfläche übertragen.

 

Dank seinem Zeichentalent, das auch ein Auffassungs- und Wissenstalent war, glitt Mario Baggiolini in die landwirtschaftliche Forschung. Immer intensiver arbeitete er mit den Entomologen in Changins zusammen und entfaltete bald auch sein Talent des Vernetzens. Waren die Wissenschaftler am Anfang noch als Apostel des DDT herumgereist, zeigte sich bald, dass es die eine, radikale Lösung gegen Schädlinge nicht gebe und dass man das Gleichgewicht suchen müsse zwischen allen Beteiligten: dem Boden, den Pflanzen, den Insekten, den Tieren, den Früchten, den Produzenten, den Abnehmern, den Wissenschaftern. All diese Faktoren galt es in die landwirtschaftliche Produktion zu integrieren.

 

Am Ende wurde Mario Baggiolini zum Vater des Labels IP. Die ETH Zürich zeichnete ihn dafür mit dem Ehrendoktor aus. Je länger man ihn nun im Film von seiner Karriere erzählen hört, desto klarer wird, dass es für ihn nichts Interessanteres gibt als das Zusammenspiel von Wissenschaft und Praxis zugunsten einer gescheiten, das heisst integrierten Produktion.

 

Die Aufnahme mit Mario Baggiolini entstand vor dreissig Jahren (1991). Aber noch heute geht den Forschern die Arbeit nicht aus. Vorgestern meldete das Regionaljournal Ostschweiz:

 

Das Tomatenvirus ist in der Schweiz angekommen.

 

Auf einem Betrieb im Kanton Thurgau wurde das sogenannte „Jordanvirus“ festgestellt. Tomaten mit gelben Flecken und mosaikartige Verfärbungen der Blätter können anzeigen, dass sie vom Virus befallen sind. „Die Pflanzen gehen ein und produzieren unverkäufliche Früchte“, erklärt Florian Sandrini, Leiter des Thurgauer Pflanzenschutzdienstes. Bis zu hundert Prozent Ernteausfall seien möglich.

 

„Prüfungen erwarte bis zuletzt“, schrieb Goethe. Fand aber, man könne vieles bewältigen, „ohne dass man es nötig hätte, zu Wundern und seltsamen Wirkungen seine Zuflucht zu nehmen, wenn man Geduld genug besässe, den natürlichen Phänomenen zu folgen, deren Kenntnis uns die Wissenschaft anbietet, über die es freilich bequemer ist, vornehm hinwegzusehen, als das, was sie leistet, mit Einsicht und Billigkeit zu schätzen.“

 

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