Charles Dutoit: Dirigent.

7. Oktober 1936  –

 

Aufgenommen am 27. Juli 2016 in Lausanne.

http://www.plansfixes.ch/films/charles-dutoit/

 

> 2018, zwei Jahre nach Aufnahme des Gesprächs, jährt sich zum hundertsten Mal die Uraufführung der „Histoire du soldat“. Die Gedenkaufführung in Lausanne dirigieren zu dürfen, wo der verehrte Lehrer Ernest Ansermet das Werk aus der Taufe hob! Das wäre der Herzenswunsch des 80jährigen Charles Dutoit. Doch es kommt anders. Die Me-Too-Bewegung holt ihn ein und bricht ihm das Genick. <

 

Charles Dutoit, der Bauernsohn aus Échallens, empfängt das Kamerateam im Hôtel Beau Rivage. Da, wo einst Igor Strawinsky abzusteigen pflegte, wenn er in Lausanne zu tun hatte. Man merkt dem Stardirigenten seine 80 Jahre nicht an. Der Ausdruck ist jugendlich-beschwingt, die Hände kräftig, das Haar unergraut. Charles Dutoit sagt, er denke nicht ans Aufhören. Wozu auch? Er ist immer noch gefragt auf der ganzen Welt.

 

Für die nächsten drei Jahre stehen die ehrenvollsten Engagements in seiner Agenda. Das Festival von Verbier. Das internationale Jugendsinfonie­orchester. Das London Philharmonic Orchestra. Soeben hat Decca eine Kassette mit 35 CDs herausgebracht: „Dutoit Montreal“. Darunter einige der weltweit meistgespielten Platten. Sogenannte Referenzaufnahmen: „La Valse“, „Daphnis et Chloé“, „La Mer“, „L‘Oiseau de feu“, „Le Sacre du printemps“.

 

Die Liste der Aufnahmen, Ehrungen und Auszeichnungen ist lang. 99 Einträge. Mit dem Orchestre Symphonique de Montreal allein wurden 101 Plattenaufnahmen realisiert. Die immense, weltumspannende Aktivität als „Chef d’orchestre“ brachte Charles Dutoit fünf Ehrendoktorate ein. Mehrere lebenslange Ehrenmitgliedschaften bei den renommiertesten Orchestern von Amerika, Europa, China, Japan. Mehrmals hat Charles Dutoit den Globus umflogen und dabei alle 193 Staaten der Welt besucht. Wenn man ihm zuhört, ging es wie von selbst. Eins ergab sich aus dem andern.

 

Im Porträt, das die „Plans Fixes“ von Charles Dutoit überliefern, treten die Faktoren ans Licht, die ihn nach Karajan, Böhm, Bernstein und Solti an die Spitze brachten: Charme, Bodenständigkeit, Humor – und Selbstverständlichkeit des Talents. Diese Mischung macht auch aus, dass man ihm fasziniert zuhört, wenn er seinen Weg nacherzählt.

 

In einem Waadtländer Dorf fängt er an. Bei der Blasmusik. Der Dreizehnjährige ist angetan von den Uniformen, namentlich der Hut-Dekoration. („Ich war immer ein Spätzünder.“) Als er aber zum Üben die Posaune ins Hause bringt, ruft der Vater: „Ah, nein. Das Instrument ist zu laut!“ Er organisiert stattdessen Geigenunterricht für den Sohn. Grund: Die Lektionen sind gratis.

 

So wird Charles Dutoit Streicher in einem Amateurorchester. Beim Ausfall einer Probe darf er den Dirigenten ersetzen, einen gewissen Otto Aebi. Der gebürtige Burgdorfer spielt später in der Schweizer Blasmusik eine prominente  Rolle. Er leitet das Blasorchester Alpina. Von ihm stammt der EHCB-Song. Aber das weiss der achtzigjährige Charles Dutoit nicht. Zu unterschiedlich sind die Laufbahnen. Die beiden Musiker begegnen sich kein zweites Mal.

 

Aber beim Amateurorchester lernt Charles Dutoit, worauf es ankommt: Dass man den Musikern erklären kann, was sie machen müssen, damit „es“ – im wahrsten Wortsinn – „stimmt“. Und da spielt ein Begriff eine Rolle, der jenseits der Technik liegt: der Stil. Mit dieser Auffassung von Musik begeistert Charles Dutoit die Orchestermusiker. Er nennt sie Freunde und bringt mit ihnen Ausserordentliches zustande – in Bern (wo er elf Jahre lang das Sinfonieorchester leitet), in Lausanne, in Wien, in London, in Genf, in Montreal, in Paris, in New York, in Buenos Aires, in Tokio, in Verbier ...

 

Was er beim Musizieren sucht, erklärt Charles Dutoit anhand der „Symphonie phantastique“, die bei der Aufnahme aufgeschlagen vor ihm liegt. Mit gut nachvollziehbaren Worten umreisst er den Bogen von den Entstehungs­bedingungen des Werks über das Klangideal des Komponisten bis zu den Forderungen, die die Partitur an die Musiker stellt. Und man versteht gleich, dass er etwas von der Sache versteht. Man hat ihm bloss zu folgen. Denn er ist ein Begnadeter. Ein Führer.

 

Mit dieser Aura erobert er die Orchester. Die Zuhörer. Die Kritiker. Die Manager. Keiner sagt, er sei ein Angeber. Er trage eine Maske. 2016, mit achtzig Jahren, führt er aus, was er noch alles im Sinn hat. Darunter, 2018, „L’Histoire du soldat“. Das wäre der Gipfel.

 

Doch es kommt anders. Am 21. Dezember 2017 berichtet Jocelyn Gecker von der Associated Press, vier Frauen hätten Charles Dutoit angeklagt, sie sexuell bedrängt zu haben. Sechs weitere Frauen melden sich: Me Too! Die Vorfälle ereigneten sich zwischen den späten 1970er Jahren und 2010.

 

Auf der englischsprachigen Wikipedia-Seite umfasst das Kapitel „Allegations of sexual assault“ doppelt so viel Raum wie Charles Dutoits Biographie. Die Herausgeber vermerken, der Teil sei wohl zu lang und übermässig detailliert. Man möge doch den Abschnitt zusammenfassen. Aber seit September 2018 stehen die Einzelheiten unverrückt im Netz: Charles Dutoit „presste im Hotelaufzug sein Knie zwischen meine Beine und drückte sich mit seiner ganzen Gestalt über mich und versuchte, in mich einzudringen“. – „Er drückte meine Handgelenke an die Wand und schob mich zum Bett. Seine Hose war im Bruchteil einer Sekunde unten, und er war in mir, bevor ich blinzeln konnte.“

 

Das Kapitel „Reaction“ listet die Auflösung der Verträge und Engagements auf: Royal Philharmonic Orchestra, Boston Symphony Orchestra, San Francisco Symphony, New York Philharmonic, Philadelphia Orchestra, Sydney Symphony Orchestra, Chicago Symphony Orchestra, Verbier Festival ...

 

Immer noch ist, auf der englischsprachigen Wikipedia-Seite, die Liste der Ehrungen länger als alles andere: 27 Einträge. Als letzter: 2017 Royal Philharmonic Society Gold Medal. (Inzwischen aberkannt.) Noch länger aber ist die Liste der Preise: 72 Einträge. Dazu kommen zwei Grammy Awards und neun Grammy Nominations.

 

Als „Chef d’orchestre“ aber ist Charles Dutoit nirgends mehr zu hören. Weder in den Konzertsälen der Welt noch in den Radiostationen.

 

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