Mutter Sofia: Strassenseelsorgerin.

18. November 1946 – 8. Januar 1996.

 

Aufgenommen am 29. September 1995 in Lausanne.

http://www.plansfixes.ch/films/mere-sofia/

 

> Sie führt das Gespräch mit den „Plans Fixes“ im Alter von 49 Jahren. Keine vier Monate später ist sie tot. Sie will nicht, dass die Krankheit zum Thema wird, die sie schon zeichnet. Sie schiebt sie beiseite. Mutter Sofia hat anderes zu sagen: Die frohe Botschaft. Für sie steht sie im Zentrum von Leben und Tod. <


Im Oktober 1977 trat der damalige Direktor der Bielersee-Schiffahrts-Gesellschaft Rudolf Röthlisberger mit seinem Bekenntnis an die Öffentlichkeit. An den Schiffskassen wurden Werbeblätter aufgelegt. Ein angefügter Bestelltalon erlaubte es den Fahrgästen, sich das Bekenntnis gegen Rechnung nach Hause schicken zu lassen. Es handelte sich um einen schmalen Lyrikband von 54 Seiten mit dem Titel: „… ohne Beginn und ohne End ...“

 

Eines der Gedichte ist überschrieben mit „Allein“:


Seit er weiss,
dass der Tod
ihm Kunde
getan, brennt nachts
die Lampe
an seinem
Bett.

Gut wäre jetzt,
Christ
zu haben
als Licht.

 

Licht brennt es in Mutter Sofias Herzen. Nicht erst, seit der Tod ihr Kunde getan. Sondern seit dem Alter von sieben Jahren, als sie – in einem Akt der Rebellion gegen die „erbaulichen Geschichten“ – anfing, die Bibel selber zu lesen. Und da erreichte sie die Botschaft in ihrer vollen Wucht:

 

Da er aber das Volk sah, ging er auf einen Berg und setzte sich; und seine Jünger traten zu ihm. Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach: Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr. Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden. Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen. Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden. Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. Selig sind, die reines Herzens sind; denn sie werden Gott schauen. Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heissen. Selig sind, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn das Himmelreich ist ihr. (Matthäus 5, 1–10)


In der Begegnung mit diesen Worten war der späteren Mutter Sofia das Jenseits aufgegangen. Ein Jenseits im Diesseits. Der Philosoph Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) hat es bestimmt:

 

Das wahrhaftige Leben lebet in Gott und liebet Gott; das nur scheinbare Leben lebet in der Welt und versucht es, die Welt zu lieben. Das wahrhaftige Leben lebet in dem Unveränderlichen; es ist daher weder eines Abbruchs, noch eines Zuwachses fähig, ebensowenig, als das Unveränderliche selber, in welchem [Menschen] es lebet, eines solchen Abbruches oder Zuwachses fähig ist. Es ist in jedem Augenblick ganz; – das höchste Leben, welches überhaupt möglich ist; – und bleibt notwendig in alle Ewigkeit, was es in jedem Augenblick ist. Das Scheinleben lebet nur in dem Veränderlichen, und bleibet darum in keinen zwei sich folgenden Augenblicken sich selber gleich; jeder künftige Moment verschlinget und verzehrt den vorhergegangenen; und so wird das Scheinleben zu einem ununterbrochenen Sterben, und lebt nur sterbend, und im Sterben.

 

Unaufhörlich umgibt uns das Ewige und bietet sich uns dar, und wir haben nichts weiter zu tun, als dasselbe zu ergreifen. Einmal aber ergriffen, kann es nie wieder verloren werden. Der wahrhaftig Lebende hat es ergriffen und besitzt es nun immerfort, in jedem Momente seines Daseins ganz und ungeteilt, in aller seiner Fülle, und ist darum selig in der Vereinigung mit dem Geliebten; unerschütterlich fest überzeugt, dass er es in alle Ewigkeit also geniessen werde, – und dadurch gesichert gegen allen Zweifel, Besorgnis oder Furcht.

 

Johann Gottlieb Fichtes „Anweisung zum seligen Leben“ ist, wie für Mutter Sofia, keine Anleitung zur Theorie, sondern eine Anleitung zur Praxis. Über den Philosophen schrieb Oskar Loerke: „Mehr noch durch die Gewalt seines ganzen Seins als durch die Kraft des Gedankens und der Sprache entflammte er die Gemüter der Jugend. Mit welchem Mute trat er 1808, mitten in dem von Franzosen besetzten Berlin, auf und hielt seine Reden an die deutsche Nation! Seine Frau, eine geborene Schweizerin, war nach der Erhebung Preussens in der Fürsorge für die Militärhospitäler tätig und von einem Fieber befallen worden, von dem sie wieder genas; Fichte wurde angesteckt und starb am 27. Januar 1814 in seinem einundfünfzigsten Jahr.“

 

Mutter Sofia, die schon mit 49 stirbt, steigt im blauen Kleid einer orthodoxen Ordensschwester in den Untergrund der Waadtländer Kantonshauptstadt. Die Not, die sie antrifft, übersteigt das Vorstellungsvermögen eines durchschnittlichen helvetischen Gemüts: „In Kalkutta ja, aber nicht bei uns!“ Das ist Mutter Sofias erste Reaktion. Dann aber tritt sie hin und erreicht mit ihrer Ansprache die Bedürftigen.

 

Mit ihrem Einstehen erreicht jetzt die Gezeichnete weniger als vier Monate vor ihrem Tod auch die Zuschauer der „Plans Fixes“. Ihre Ansprache geht tief. Sie übermittelt das Wunder des Gottesreichs: „Abermals ist das Himmelreich gleich einem Kaufmann, der gute Perlen suchte, und da er eine köstliche Perle fand, ging er hin und verkaufte alles, was er hatte, und kaufte sie.“ (Matthäus 13, 45 f.)

 

Mutter Sofia hat in Lausanne eine Stiftung hinterlassen. Sie betreibt, um Gotteslohn, eine Notschlafstelle, eine Arbeitsvermittlung, eine Verteilstelle für Lebensmittel und eine Suppenküche (La Soupe).

 

Um die Dienstleistungen der Suppenküche an die neuen gesetzlichen Anforderungen anzupassen, verteilen wir jeden Abend an der Promenade de la Solitude in Lausanne eine komplette Mahlzeit. Jeder ist willkommen, und alles, was serviert oder gegeben wird, ist kostenlos. – La Soupe versorgt also weiterhin [trotz Corona]  die meisten démuni∙e∙s (Menschen mit KEINEN finanziellen Mitteln) täglich mit einer warmen Mahlzeit.

 

Nicht wahr? Das ist stark! „So gehe hin und tue desgleichen!“ (Lukas 10, 37)

 

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