René-Pierre Bille: Fotograf und Tierfilmer.

1915 – 2. April 2006.

 

Aufgenommen am 8. Juli 1992 in Sierre.

http://www.plansfixes.ch/films/rene-pierre-bille/

 

> Das Porträt von René-Pierre Bille ist in zweifacher Hinsicht ungewöhnlich: Erstens durch das, was er sagt, und zweitens durch das, wie er es sagt. Inhaltlich bezeugt der weissbärtige Filmer eine Naturverbundenheit, die man erst am Amazonas wiederfindet, so genau kennt er seine Gegend und ihre Tiere. Und an seiner Redeweise kann man erleben, wie das Volk bis vor hundert Jahren gesprochen hat. <

 

Im 18. Jahrhundert, als sich Deutschland „Auf dem Wege zur Klassik“ befindet (Walther Killy), entdecken ein paar wenige Gelehrte Reiz, Würze und Schönheit in der Sprache des Volkes. Herder gehört zu ihnen, und Johann Heinrich Merck, einer der angesehensten Kritiker der Epoche. Im „Teutschen Merkur vom Jahr 1778, erstes Vierteljahr“ polemisiert er gegen die Akademisierung von Sprache und Leben (das Thema bleibt bis heute aktuell). Auf die Scheuklappen der selbstüberzeugten Rechthaber gemünzt fragt er: „Aber was sieht die kränkelnde Intoleranz des gemeinkultivierten Kopfs auf seiner Reise durch die Welt?“

 

Johann Heinrich Merck beklagt die Enge der standardgedanklichen Auffassungsweise: „Man vergleiche damit die Naivität des gemeinen Mannes, des wirklich sinnlichen Menschen. Seine Gabe zu sehen macht ihn zum beredtsten Erzähler. Seine Einbildungskraft ist roh, durch Vergleichungen ungebildet. Das Gegenwärtige ist ihm daher immer gross und anziehend, weil es von allen Seiten Eindruck auf ihn gemacht hat. Man höre ihm nur zu, wenn er die geringste Stadtbegebenheit, einen Todesfall, eine Familiengeschichte erzählt. Er eilt nicht schnell zum Schluss, wie der [intellektuelle] philosophische Erzähler; er drängt keine Begebenheiten [zusammen], er malt aus. Jeder einzelne Eindruck ist ihm kostbar, er sucht ihn wiederzugeben. Daher das Umständliche, das den Gelehrten so lästig ist, und das doch eigentlich das [kleine alltägliche] Ding zu einer Begebenheit macht. Man höre nur auf die Konversation eines Weibes, eines Jägers, eines Soldaten, und man wird eine Gabe zu erzählen finden, die dem Skribenten nachzuahmen unmöglich fallen wird.“

 

Ein kostbares Dokument dieser Art zu erzählen bieten die „Plans Fixes“ in ihrer Nummer 1107: Sie bezeichnet ein Porträt von René-Pierre Bille aus dem Jahr 1992. Da legt sich der betagte Tierfilmer ins Zeug wie ein aufgeweckter, feuriger Bub. Er ist erfüllt vom Gesehenen und Erlebten. Um das Gegenüber daran teilhaben zu lassen, bietet er alle Mittel auf: die Arme, die Hände, die Blicke, die Schultern, den Oberkörper. Mit ihnen zeichnet er nach, wie der Hirsch ein Rudel aus dem Wald führt oder wie der Adler mit einer Spannweite von 2 Meter 20 auf ihn zufliegt. In diesen Momenten verschmelzen in René-Pierre Bille Objekt und Situation, und mit einer Stimmführung, die durch Modulation und Ausrufe wiedergibt, wie es ihm damals zumute war, gibt er in der Erzählung sich selbst und seine Beteiligung preis. Die Selbsthingabe aber zielt darauf ab, den Hörer an der Erfahrung des Überwältigenden zu beteiligen.

 

Zugute kommt dem 77-jährigen, dass er seinerzeit mit den Geschwistern frei aufwuchs und dem Zwang des Gymnasiums entlief. Lieber diente er als Knecht bei den Bauern. Bei ihnen genoss er Kraft und Freiheit im Umgang mit Vieh und Natur. Und wenn es ihm zu eng wurde, schlich er frühmorgens in blossen Füssen durchs taunasse Gras ab, die Schuhe in der Hand, um keinen Lärm zu machen. Durch seine Gebärdensprache ruft René-Pierre Bille die Situation hervor, und in der Evokation des Abhauens macht er deutlich, worum es ihm ging: Die Eigenart zu bewahren.

 

Mit diesem Ziel lebte er auch zwei Sommer lang in einer Höhle. Sie lag im Rhonetal, das damals noch wild war; der Fluss nicht kanalisiert. René-Pierre Bille brachte sich dort mit Wilderei durch. Seine Nahrung bestand aus Igeln, Hasen, Forellen. Nachts stieg er „mit verbundenen Augen, so gut kannte ich mich aus“, ins Wasser: „Ich wusste genau, wo sich die Fische versteckten. Ich brauchte bloss mit dem Arm hinzulangen, um eine Forelle hervorzuziehen.“ Auch Heuschrecken briet er. Im Film beschreibt er, wie man das macht, und wieder nimmt er die Gebärdensprache zuhilfe. Vor dem inneren Auge des Zuschauers entwickelt sich die Prozedur, wie man den Verdauungsteil herauszieht, bevor man das Insekt als Delikatesse in die Pfanne wirft.

 

Als René-Pierre Bille anfängt, Wildtiere zu fotografieren und später auch zu filmen, ist es ihm nicht mehr möglich, sie zu töten. In ihnen erblickt er jetzt „die Seele des Orts“. Denn jedes dieser Wesen, erklärt er, hat sein Biotop. Nur dort kann es leben. Wenn die Bedingungen nicht mehr zusammenstimmen, verschwindet es.

 

Das Auge für solche Konstellationen hat sich René-Pierre Bille beim Wildern erworben. Nun kommt es ihm bei der Tierbeobachtung zugute, und er schiesst Bilder, die ihm aus der Hand gerissen werden: „Jedes Foto, das ich vom Wallis herunterbrachte, war zum voraus bezahlt.“ Die Abnehmer sind französische Magazine und Verlage. Tierbilder verkaufen sich gut, bis heute.

 

René-Pierre Bille bezieht eine Stube in Chandolin auf 1936 Höhenmetern. Im Winter bleiben nur zwei, drei Familien am Ort zurück, vielleicht zwanzig Menschen, erklärt der Weissbärtige. Wenn es zu schneien beginnt, im Januar und Februar, drängt abends die Stille die Menschen zusammen: „Wir waren alle im selben Raum, brachten etwas zum Verzehren mit, und die Alten begannen zu erzählen: von Ereignissen in der Vergangenheit und von Wiedergängern.“

 

Im Frühjahr fährt René-Pierre Bille mit neuen Bildern zu Tal. Er bringt sie nach Paris und geht dann auf Tournee. Zwanzig Jahre lang kommentiert er in Kinosälen seine Tierfilme und signiert seine Tierbücher. Er kann davon leben, dass er er selbst geblieben ist.

 

Vor diesem Hintergrund wird die Begegnung mit René-Pierre Bille in den „Plans Fixes“ zum Naturerlebnis. Seine Einbildungskraft ist mitreissend, das Gegenwärtige immer gross und anziehend, weil es von allen Seiten Eindruck auf ihn gemacht hat. Man höre nur zu, wie er malt. Jeder einzelne Eindruck ist kostbar.

 

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