Anne Cuneo: Journalistin, Cineastin und Schriftstellerin.

6. September 1936 – 11. Februar 2015.

 

Aufgenommen am 4. März 2013 in Genf.

http://www.plansfixes.ch/films/anne-cuneo/

 

> Ihr Name wird französisch ausgesprochen, als ob er mit é geschrieben wäre. Doch anfangs wuchs das Mädchen in Italien auf und hiess Anna Cuneo. Am letzten Tag des Zweiten Weltkriegs kämpften in ihrem Dorf noch Partisanen mit deutschen Truppen. Dabei kam der Vater ums Leben. Die achtjährige Halbwaise musste in die französische Sprachwelt hinüberwechseln. Siebzig Jahre später erhielt sie als Anne Cuneo (französisch und mit é ausgesprochen) von der République Française den Titel Chevalier de l’ordre des Arts et des Lettres (2008) und Commandeur de l’ordre national du Mérite (2013). <

 

Lang und beeindruckend ist die Liste der Werke, welche die deutsche Seite von Wikipedia zu Anne Cuneo anführt. Da wird ihre Arbeit als Regisseurin erwähnt, und dass sie nach dem Erstling von 1980 „mehr als zehn weitere Dokumentarfilme“ realisiert habe. Das Kapitel Erzählungen und Romane umfasst 32 Titel. Wikipedia französisch listet dazu noch vier Filme und zwei Theaterstücke auf. Die englische Version elf Filmtitel. Daneben wären noch verschiedene Theaterinszenierungen nachzutragen, die nicht speziell erwähnt sind.

 

In der Begegnung mit den „Plans Fixes“ erzählt nun Anne Cuneo freimütig, charmant und lebendig, wie das alles zustandekam – als sie unter der Diagnose Brustkrebs stand (die Ärzte gaben ihr nur noch wenige Monate, höchstens zwei Jahre); als sie fürchten musste, ihre Adoptivtochter im selben Alter verlassen zu müssen, in dem sie den Vater verloren hatte; als sie als Journalistin arbeitslos war, weil sie wegen angeblicher Kubafreundlichkeit auf die schwarze Liste gekommen war. Was sie damals durchbrachte, waren drei Eigenschaften, die ihr schon in den strengen, von „bösartigen Nonnen“ (Anne Cuneo) geführten katholischen Internaten zuhilfe gekommen waren. 

 

Erste Eigenschaft: Anne Cuneo ist, wie die Franzosen sagen, „débrouillarde“, das heisst, nach Leo, gewieft, pfiffig, lebenstüchtig. In ihrem Fall ist „lebenstüchtig“ die angemessene Vokabel. Wer „débrouillard“ ist, kann sich in Fällen, wo andere scheitern, immer noch durchhelfen. Dafür braucht es (zweitens) eine überragende Auffassungsgabe.

 

Diese zweite Eigenschaft indes kann man nicht kaufen. Sie ist ein Geschenk der guten Feen. Allen wird sie nicht in die Wiege gelegt. Anne Cuneo aber hat sie bekommen. Das zeigt sich schon daran, wie die kleine Italienerin Französisch lernte: Die Lehrerin in Lausanne gab ihr „Die drei Musketiere“, und nach drei Monaten konnte sie das Mädchen auswendig. Alexandre Dumas der Ältere hatte sie zu begeistern vermocht.

 

Die rasche Auffassungsgabe kam Anne Cuneo immer dann zuhilfe, wenn sich ihr eine Chance bot. Da packte sie zu. In der barocken Emblematik wird die gute Gelegenheit (occasio) als nackte, eingeölte Frau dargestellt, die auf einem Rad sitzt. Das Rad symbolisiert die Geschwindigkeit, mit der sie daherkommt und vorüberflitzt. Der nackte, eingeölte Körper weist darauf hin, wie schwierig es ist, sie zu fassen. Sogar ihr Kopf ist kahl. Aus der Stirn aber wächst, wie der Schwanz eines Pferdes, ein Haarbüschel. An ihm kann man Occasio ergreifen. Und der Volksmund erklärt: „Man muss die Gelegenheit beim Schopf packen.“

 

Unsere Vorfahren meinten mithin, kein Mensch sei chancenlos. Jeder bekomme, zum wenigsten einmal, seine Gelegenheit. Doch dürfe er nicht träge sein. (Faulheit gilt ja immerhin bei der katholischen Kirche als Todsünde.) Er müsse hinschauen auf das, was kommt, und sich den Blick nicht ablenken lassen.

 

Wir können uns vorstellen, wie anders es aussähe, wenn die Schöpfer des Anthropozäns auf das Kommende achtsamer wären und die Kraft zum Anpacken fänden. Dann hätten Artensterben, Klimakatastrophe, Aufrüstung, Krieg und Überbevölkerung keine Chance mehr.

 

Die dritte Eigenschaft, die Anne Cuneo durchs Leben und zu ihrem Werk half (ja am Ende gar zu den Titeln Chevalier de l'ordre des Arts et des Lettres und Commandeur de l'ordre national du Mérite), ist ihre, sagen wir mal gelehrt: unneurotische Unerschrockenheit. Bei allen Gelegenheiten, die sich ihr boten, sei es in Form eines Romansujets, einer Arbeitsmöglichkeit oder eines Beziehungsangebots, antwortete sie: „Probieren wir’s mal!“

 

Mit dieser Einstellung kam sie übers Texten von Werbespots zum Film und zur Regie. Eine TV-Recherche brachte sie auf die Kriminalromane mit der Privatdetektivin Marie Machiavelli. Das Schreiben von Hörspielen führte sie zur Abfassung von Theaterstücken. Und die Brustkrebs-Diagnose veranlasste sie zu einer Autobiografie.

 

Die erstaunlichste Auskunft über Anne Cuneo findet sich indes nicht in ihren Werken, und auch nicht in den französischen, deutschen oder englischen Wikipedia-Einträgen. – Am Ende der Aufnahme für die „Plans Fixes“ wird die Schriftstellerin, Journalistin und Regisseurin gefragt, was sie tun würde, wenn sie heute 25-jährig wäre. Üblicherweise antworten die Porträtierten: „Noch einmal dasselbe.“ Anne Cuneo aber sagt: „Ich würde Informatik-Ingenieur studieren.“

 

Feurig erzählt die 77-jährige von ihrer Faszination für die Mathematik, die ihr aber in der Jugend ausgetrieben wurde, weil sich die Befassung mit MINT-Fächern für Mädchen nicht schickte (und schon gar nicht an einer katholischen Schule). Wenn wir das nächste Mal zur Welt kommen, werden wir sehen, ob es aus Anne Cuneo wirklich eine Ingenieurin gegeben hat.

 

Bis es aber soweit ist, wollen wir beten, dass wir nicht schlafen, wenn uns das nächste Mal die Chance ihren Schopf darbietet.

 

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