Georges Duplain: Journalist, Schriftsteller.

25. August 1914 – 12. Oktober 1993.

 

Aufgenommen am 28. Juni 1993 in Lausanne.

http://www.plansfixes.ch/films/georges-duplain/

 

> Unter den vielen älteren Menschen, die durch das Gespräch mit den „Plans Fixes“ ihre Lebensleistung in die Unsterblichkeit hinüberbringen, bildet der 79-jährige Georges Duplain eine Ausnahme. Er wirkt nicht „älter“, er wirkt alt. Heute wissen wir warum: Der Porträtierte starb kein halbes Jahr nach der Aufnahme. <

 

Vor dreissig Jahren wartete ich an der Haltestelle Studio Basel aufs Tram. Aus der Novarastrasse nahte Heini Vogler, der Leiter der Literaturredaktion des Schweizer Radios, und stellte eine schwere, schwarze Mappe auf die Bank. „Du gehst aus?“, fragte er. „Ja, ins Theater. Und du? Machst du erst jetzt Feierabend?“ „Nein, ich bin noch nicht soweit. Aber ich nehme den Rest der Arbeit nach Hause.“ Er öffnete die Mappe: „All diese Bücher sollte ich noch anschauen.“ Er sah mein mitleidiges Gesicht. „Ja“, sagte er trocken, „wir Journalisten sind nicht mehr als Durchlauferhitzer“.

 

Solch ein Durchlauferhitzer war auch Georges Duplain. Als Redaktor an der „Gazette de Lausanne“, als Bundeshausjournalist des Westschweizer Fernsehens, als Chefredaktor der Schweizerischen Depeschenagentur, als Ramuz-Biograph und als lokalgeschichtlicher Autor von Pompaples (einem Achthundert-Seelen-Dorf im Waadtland) hat auch er bloss Inhalte, die andere geschaffen hatten, in aufnahmefreundliche Formulierungen gebracht.

 

Damit glich seine Tätigkeit der des Lehrers. Der übermittelt ebenfalls ein Wissen, das er nicht der Natur abgerungen, sondern bloss Geschriebenem entnommen hat. Doch während der Lehrer seinen Stoff ein ganzes Leben lang wiederholt, hat es der Journalist ständig mit Neuem zu tun, das aber, weil weniger wertvoll als die Differentialgleichung, Goethes „Nachtlied“ oder die „Grundlagen der Statik I“, auch bald veraltet und von neuem Neuem beiseitegeschoben wird.

 

Als Durchlauferhitzer haben Lehrer und Journalisten die Funktion gemeinsam, eine Materie so zuzubereiten, dass sie von den Wissensdurstigen gut aufgenommen werden kann. Und da gibt es Unterschiede: Die Qualität einer Espressomaschine prägt den Kaffeegenuss, die Qualität eines Textes prägt den Lesegenuss, und die Qualität eines Lehrers prägt den Genuss des Unterrichts.

 

Das hat Georges Duplain schon an der Sekundarschule von Orbe erfahren. Und wie jeder zweite Porträtierte der „Plans Fixes“ versäumt er nicht, den einen oder anderen Lehrernamen mit in die Unsterblichkeit zu nehmen, im konkreten Fall den des Lateinlehrers. Der Mann, dessen Name sonst vergessen wäre, übermittelte den Schülern nicht bloss die Sprache der alten Römer, sondern er ging mit den Klassen auch ins Feld. In der Ruine der Villa von Boscéaz mussten die Schüler die Wohnweise der antiken Menschen ermitteln, und dann legten sie noch ein Stück der alten Römerstrasse frei.

 

Indem Georges Duplain wenige Monate vor dem Tod seine Erinnerungen der Kamera – und damit uns – anvertraut, erkennen wir, dass der „Durchlauferhitzer“, egal ob Lehrer oder Journalist, in Wirklichkeit ein Vermittler ist. Er bringt uns zusammen mit dem Neuen, das stets ein Fremdes, Unbekanntes ist; und durch seine Tätigkeit erweitert er unsere Kenntnis der inneren und äusseren, der gegenwärtigen und der vergangenen Welt. So gesehen trifft für Lehrer und Journalisten zu, was José Ortega y Gasset für den Schriftsteller formuliert hat: „Der Autor kommt von Auctor: der, welcher vermehrt. So nannten die Lateiner den Feldherrn, der dem Vaterland neue Provinzen erobert hatte.“

 

Im Kaleidoskop, das Bertil Galland wie immer mit Hast vorantreibt (er konnte ja nicht wissen, dass es einst Wikipedia geben werde), gibt Georges Duplain nun kurze Einblicke in die Stationen seines Lebens. Einen Moment lang begegnen wir der Welt von Charles-Ferdinand Ramuz. Um seine Biografie schreiben zu können, hat der Journalist die Tochter des Dichters aufgesucht. Nun darf er sich als erster an den Schreibtisch des Verewigten setzen und seine Tagebücher lesen. Das ergriffene Gesicht des 79-jährigen übermittelt die Bedeutung dieser Begegnung.

 

Ebenso bewegt ist er, als er davon spricht, wie er in St. Margrethen den Zug mit den KZ-Insassen aus Mauthausen einfahren sieht. Die ausgemergelten Gestalten gleichen lebenden Leichnamen. Vom Mitleid bewegt, strecken die Einheimischen den Unglücklichen Lebensmittel entgegen. Georges Duplain öffnet die Hand: „Ein Apfel!“, ruft er. „Drei Jahre ist es her, seit ich den letzten gesehen habe!“

 

In diesem Moment bringt uns der alte Mann mit der Geschichte zusammen – also jenem Geschehen, das die Epoche prägt. Und weil es grösser ist als der einzelne Mensch, nimmt sich der gute Journalist zurück. Diese Lektion gibt Georges Duplain am Ende seines Lebens der Nachwelt weiter, indem er mit Bescheidenheit und Liberalität die Ereignisse, Menschen und Verhältnisse schildert, denen er als stiller Beobachter begegnet ist.

 

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