Nicole Niquille: Bergführerin.

13. Mai 1956 –

 

Aufgenommen am 1. Oktober 1986 in Kandersteg.

http://www.plansfixes.ch/films/nicole-niquille/

 

> Nicole Niquille ist wohl die jüngste aller Porträtierten in den „Plans Fixes“. 1986, zum Zeitpunkt der Aufnahme, war sie erst dreissig Jahre alt. Hinter ihr lag eine besondere Leistung: Sie hatte als erste Frau der Schweiz das Bergführerdiplom erworben. Vor ihr aber lag noch mehr als das halbe Leben. Und das kam anders heraus, als es sich die 30-jährige Nicole Niquille vorgestellt hatte. <

 

Als der Erzähler im vorletzten Band von Marcel Prousts Romanwerk „A la recherche du temps perdu“ seine Geliebte bei einem tödlichen Reitunfall verliert, beginnt er, über das nachzudenken, was er verloren hat und was ihm bleibt: „Um in uns einzutreten, wurde ein Wesen gezwungen, sich der Form und dem Rahmen der Zeit zu unterwerfen; es erschien uns nur in einzelnen aufeinanderfolgenden Minuten und war nie in der Lage, uns mehr als eine Ansicht aufs Mal von sich zu liefern, uns mehr als eine Momentaufnahme von sich zu geben. Aus einer einfachen Sammlung von Momenten zu bestehen ist zweifellos eine grosse Schwäche für ein Wesen; aber auch eine grosse Stärke; es wird zum Gegenstand der Erinnerung, und die Erinnerung an einen Moment ist nicht über alles informiert, was danach geschah; der Moment, den die Erinnerung aufgenommen hat, dauert an, lebt noch, und mit ihm das Wesen, das sich darin abzeichnete.“

 

In den „Momentaufnahmen“ der „Plans Fixes“ tritt natürlich vom befragten „Wesen“ mehr hervor, wenn es zwischen siebzig und achtzig Jahren auf sein Leben zurückblickt, als wenn es, wie Nicole Niquille, bloss von einer einzigen Leistung berichten kann, so besonders sie auch war. Im einen Fall erscheint ein vielgestaltiges, oft episodenreiches, manchmal auch (dem Lauf der Geschichte geschuldet) widersprüchliches Ganzes. Im anderen Fall zeigt sich die wohltuend einfache Welt der Macher: „Wollen wir morgen den Nord-Aufstieg machen?“ „Hast du die Dufourspitze schon gemacht?“

 

Unter diesem Vorzeichen beginnt Nicole Niquilles Bergsteigerkarriere. Nach einem Motorradunfall mit achtzehn, bei dem sie das linke Bein fast verloren hätte, riet ihr der Arzt, Sport zu machen. Die Zwillingsschwester, eine begeisterte Berggängerin, nahm sie daraufhin mit auf ihre Touren, die sich dadurch empfahlen, dass langsame Bewegungen möglich waren. So zeigte die Gesunde der Rekonvaleszenten, wie man es macht, dass man nach oben kommt und das Ziel erreicht. Voraussetzung ist natürlich, dass man alles richtig macht, und zwar „step by step“. Dann beherrscht man das Handwerk und den Berg.

 

Für die Ausbildung zur Bergführerin kam Nicole Niquille zugute, dass sie eine ausgesprochene „Sinnwahrnehmerin“ war. Die Typenpsychologinnen Stefanie Stahl und Melanie Alt erklären: Menschen dieses Typs „verlassen sich auf das, was sie sehen, hören, tasten, riechen und schmecken können. Sie sind Tatsachenmenschen, Pragmatiker und Realisten. Ihre Sinne richten sich auf die tastbare Wirklichkeit, auf das, was ist, und weniger auf das, was es sein könnte. Sie sind erdverbunden, der Welt zugewandt. Sie interessieren sich für praktische Möglichkeiten, für das, was machbar ist. Abstrakte und theoretische Diskussionen über das, was eventuell möglich wäre, ermüden und langweilen sie schnell. Da die Sinnwahrnehmer sich dem Fassbaren, der gegenständlichen Realität, zuwenden, nehmen sie ihre Umgebung zumeist genau wahr, auch Einzelheiten entgehen ihnen nicht. Sie nehmen Details in sich auf, speichern sie und legen sie in ihrem Gedächtnis ab wie in einem Karteikasten. Sie haben eine Vorliebe für Fakten.“

 

Mit diesem psychologischen Rucksack ausgestattet, erwarb Nicole Niquille zum Zeitpunkt der Aufnahme 1986 das Bergführerdiplom. Hinter ihr lagen bereits anspruchsvolle Touren am Himalaya mit ihrem damaligen Partner Erhard Loretan. Er wurde neun Jahre später, 1995, der zweite Bergsteiger, dem die Besteigung aller 14 Achttausender ohne zusätzlichen Sauerstoff gelang.

 

Zu dem Zeitpunkt jedoch lebten Erhard und Nicole schon getrennt; sie im Rollstuhl. Beim Pilzsammeln war ihr Kopf am 8. Mai 1994 von einem nussgrossen Stein getroffen worden. Ein Schädelbruch, verbunden mit einer Hirnquetschung, hatte ihr den Gebrauch der Beine genommen.

 

1996 erhielt Erhard Loretan die König-Albert-Verdienstmedaille für die Eröffnung „neuer Dimensionen im modernen Alpinismus“. Fünf Jahre später, an Weihnachten 2001, schüttelte er seinen schreienden, sieben Monate alten Sohn zutode. Am 12. Februar 2003 wurde er dafür zu vier Monaten Gefängnis bedingt verurteilt.

 

Erhard Loretan starb am 28. April 2011, am Tag seines 52. Geburtstags, als Führer einer Zweierseilschaft. Die 38-jährige Begleiterin hatte ihn auf dem Eis mit sich in die Tiefe gerissen. Sie überlebte den Absturz schwerverletzt. Sechs Monate später erklärte sie, in den letzten zwei Jahren seine Geliebte gewesen zu sein, und nahm die Verantwortung für das Unglück auf sich. Die Untersuchung indes interpretierte das Geschehen als Unfall.

 

Die gelähmte Nicole Niquille geht gegenwärtig ihrem ursprünglichen Beruf als Sekundarlehrerin nach. Sie ist Ehrenmitglied des Schweizer Bergführerverbands. Würde ihr Porträt in den „Plans Fixes“ heute aufgezeichnet, würde sie wohl über anderes sprechen als bei der Aufnahme vor 35 Jahren. „Darum, wer sich lässt dünken, er stehe, mag wohl zusehen, dass er nicht falle.“ (1. Kor. 10, 12)

 

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