Henri Stierlin: Kunst- und Architekturhistoriker.

2. April 1928 –

 

Aufgenommen am 6. August 2009 in Genf.

http://www.plansfixes.ch/films/henri-stierlin/

 

> Henri Stierlin hat ein Leben lang das betrieben, was man im deutschen Jargon „Feuilletonwissenschaft“ nennt. Er veröffentlichte seine Forschungen und Überlegungen in Medien, die allgemein zugänglich sind, und verwendete eine Sprache, die allgemein verständlich ist. Dafür büsste er mit akademischem Ansehen. Denn Feuilletonwissenschaft „macht man nicht, sofern man der Wissenschaft angehört und sich ‚der Wahrheit verpflichtet‘ hat“ (Jürgen Kaube). <

 

Mit achtzig kann Henri Stierlin auf ein Werk von achtzig Büchern zurückblicken, meist architektur- oder kunstgeschichtlichen Inhalts. Seine Fotosammlung umfasst 180’000 Aufnahmen. Er ist lic. iur. (den Grad erwarb er mit 26 an der Universität Lausanne) und Dr. ès lettres (den Grad erwarb er mit 48 an der Universität Grenoble mit einer kunstgeschichtlichen Dissertation). Er arbeitete als Kulturredaktor bei der „Tribune de Genève“, dann in gleicher Funktion bei Radio und Fernsehen der welschen Schweiz. Er war Chefredaktor der Fernsehzeitung „Radio TV je vois tout“ und Chefredaktor der architektonischen Monatsschrift „Werk-OEuvre“. Ausserdem war er Verleger des Office du Livre in Freiburg i.Ü. Im Jahr 2004 ernannte ihn die République Française zum Chevalier de la Légion d’honneur. Doch der Doctor honoris causa blieb ihm verwehrt. Denn in der akade­mischen Funktionärswelt gilt Henri Stierlin als Feuilletonwissenschaftler. Und Feuilletonwissenschaft „macht man nicht“ (Jürgen Kaube).

 

Das hat schon Egon Friedell erfahren, der Verfasser der „Kulturgeschichte der Neuzeit“: „Will in Deutschland jemand etwas öffentlich sagen, so entwickelt sich im Publikum sogleich Misstrauen in mehrfacher Richtung: zunächst, ob dieser Mensch überhaupt das Recht habe, mitzureden, ob er ‚kompetent‘ sei, sodann, ob seine Darlegungen nicht Widersprüche und Ungereimtheiten enthalten, und schliesslich, ob es nicht etwa schon ein anderer vor ihm gesagt habe. Es handelt sich, mit drei Worten, um die Frage des Dilettantismus, der Paradoxie und des Plagiats.“

 

Da nützt es nichts zu rechnen: Wenn Henri Stierlins achtzig Bücher achtzig Semesterarbeiten entsprechen, kommt er auf fünfzehn bis zwanzig Universitätsjahre – genug für eine Habilitation, einen Lehrstuhl und ein Ordinariat. Doch leider ist diese Rechnung nicht ECTS-konform. Denn Henri Stierlin hat nicht in den richtigen Gefässen publiziert. Er ist und bleibt „ein Wissenschaftler, der sich zu schriftlichen Auftritten ausserhalb jener Zeitschriften überreden lässt, die für das allgemeine Publikum schwer erreichbar sind. Dafür soll er mit akademischer Reputation zahlen.“ (Jürgen Kaube).

 

Da nützte ihm die ganze Energie und Umsicht nichts, mit der er seine Gegenstände bearbeitete. Er war ja dauernd im Feld! Er hat all seine Belege selbst fotografiert, die Stücke in der Hand gehalten, die Orte aufgesucht und abgeschritten! Gleichwohl! Es hilft Henri Stierlin auch nicht, dass Egon Friedell schrieb: „Was den Dilettantismus anlangt, so muss man sich klarmachen, dass allen menschlichen Betätigungen nur so lange eine wirkliche Lebenskraft innewohnt, als sie von Dilettanten ausgeübt werden. Nur der Dilettant, der mit Recht auch Liebhaber, Amateur genannt wird, hat eine wirklich menschliche Beziehung zu seinen Gegenständen, nur beim Dilettanten decken sich Mensch und Beruf; und darum strömt bei ihm der ganze Mensch in seine Tätigkeit und sättigt sie mit seinem ganzen Wesen, während umgekehrt allen Dingen, die berufsmässig betrieben werden, etwas im übeln Sinn Dilettantisches anhaftet: irgendeine Einseitigkeit, Beschränktheit, Subjektivität, ein zu enger Gesichtswinkel. Der Fachmann steht immer zu sehr in seinem Berufskreise, er ist daher fast nie in der Lage, eine wirkliche Revolution hervorzurufen: er kennt die Tradition zu genau und hat daher, ob er will oder nicht, zu viel Respekt vor ihr. Auch weiss er zu viel Einzelheiten, um die Dinge noch einfach genug sehen zu können, und gerade damit fehlt ihm die erste Bedingung fruchtbaren Denkens.“

 

Derweil veröffentlicht Henri Stierlin Buch um Buch Verstörendes, Neuartiges, Unorthodoxes. Einzelnes wird von der Fachwelt abgelehnt oder widerlegt (etwa die Fälschungsthese bei Nofretete), anderes führt beim angesehensten Institutsleiter zur Konzession: „Vous avez raison.“ Widerspruchsgeist treibt ihn an: Es reizt ihn, allgemein etablierte Ansichten zu hinterfragen. Dazu kommt er durch „Komparatistik“: Das einzelne kunstgeschichtliche oder architektonische Objekt wird mit Andersartigem, Benachbartem oder Ähnlichem in Zusammenhang gebracht, damit hinter dem Gegebenen einer Statue, einer Ruine, eines Gemäldes Sinn und Beweggrund hervortreten können. Auf diese Weise ist Henri Stierlin ein ausgesprochener „Intuitivwahrnehmer“.

 

„Das Unbewusste“, erklären die Typenpsychologinnen Stefanie Stahl und Melanie Alt, „ist an der intuitiven Wahrnehmung stärker beteiligt als bei der sinnlichen Wahrnehmung. Assoziationen, die aus dem Unterbewusstsein auftauchen und sich in Geistesblitzen und Eingebungen vermitteln, verweben sich in das Wahrnehmungsbild, das dem Intuitivwahrnehmer über seine Sinne gesendet wird. – Die Intuitivwahrnehmer interessieren sich weniger für das Offensichtliche und Fassbare. Sie möchten den übergeordneten Sinn hinter dem Augenscheinlichen erfassen. Sie suchen nach den Verbindungen zwischen den Dingen, nach der dahinterstehenden Bedeutung.“ C. G. Jung: „Der Intuitive befindet sich nie dort, wo allgemein anerkannte Wahrheitswerte vorhanden sind, sondern dort, wo Möglichkeiten zu finden sind.“

 

Damit erhält der Konflikt zwischen dem Intuitivwahrnehmer Henri Stierlin und der wissenschaftlichen Fachwelt eine paradigmatische Dimension. Nochmals Stefanie Stahl und Melanie Alt: „Die Sinnwahrnehmer [Wahrnehmer über das Tastbare, Zähl- und Messbare] beziehen sich gern auf Fakten, Details und Beispiele, während die Intuitivwahrnehmer Einsichten, Konzepte und neue Ideen vorstellen. So kann es passieren, dass sie aneinander vorbeireden: Wenn der Intuitivwahrnehmer sich länger über seine theoretischen Einsichten verbreitet, ermüdet das den Sinnwahrnehmer nicht nur, sondern er denkt auch bei sich, dass der Intuitivwahrnehmer keine Bodenhaftung hat. Ausserdem neigen Intuitivwahrnehmer zu Gedankensprüngen, die den Sinnwahrnehmer irritieren, weil er gerne von A nach B denkt. Den Intuitivwahrnehmer macht es hingegen ungeduldig, wenn der Sinnwahr­nehmer sich immer wieder auf konkrete Beispiele bezieht, diese detailliert erzählt und nicht auf den Punkt (der eigentlichen Erkenntnis) kommt. Die Intuitivwahrnehmer denken heimlich, sie seien die Intelligenteren.“

 

Doch letzten Endes wird der Streit, ob man Palmyra so oder so sehen müsse, vor dem Hintergrund von Zeit und Zeitlichkeit wieder aufgehoben. „Jeder von uns in der Wissenschaft weiss“, erklärte Max Weber, „dass das, woran er gearbeitet hat, in 10, 20, 50 Jahren veraltet ist. Damit hat sich jeder abzufinden, der der Wissenschaft dienen will. Wissenschaftliche Arbeiten können gewiss dauernd, als ‚Genussmittel‘ ihrer künstlerischen Qualität wegen, oder als Mittel der Schulung zur Arbeit, wichtig bleiben. Wissenschaftlich aber überholt zu werden, ist – es sei wiederholt – nicht nur unser aller Schicksal, sondern unser aller Zweck. Wir können nicht arbeiten, ohne zu hoffen, dass andere weiterkommen werden als wir.“

 

Vielleicht können wir den Konflikt mit Roland Donzés Kompromissvorschlag lösen: „Ich bin der Meinung, dass wir auf den Unterschied von ,Sciences‘ und ,Lettres‘ zurückkommen sollten und damit zugeben, dass ,Lettres‘ nichts mit ,Sciences‘ gemein haben. Als Wissenschaft würde ich auf unserem Gebiet einzig das Herausgeben und Annotieren von Texten gelten lassen. Was aber die Deutung und Würdigung von Texten angeht, kommt man ohne die Methodenstrenge der Wissenschaft rascher und sicherer zum Kern. Das ideale literaturhistorische Seminar gleicht deshalb einem Salon, in dem sich helle Köpfe über die Eindrücke verständigen, die der Text in ihnen hervorruft.“ Was Donzé über die Philologie sagte, lässt sich auf die Kultur- und Architekturgeschichte ausdehnen, selbst wenn das dem aktuellen Trend zuwiderläuft. Sonst aber passiert in den Geisteswissenschaften nichts Spannendes mehr.

 

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