Jacob Sumi: Bergler am Col des Mosses.

13. November 1895 – 21. Juni 1984.

 

Aufgenommen am 5. Mai 1978 am Col des Mosses.

Jacob Sumi – Association Plans Fixes

 

> Am 5. Mai 1978, dem Tag nach Auffahrt, besucht die Kamera der „Plans Fixes“ Jacob Sumi am Col des Mosses. Vor dem Chalet liegen fünfzig Zentimeter Schnee. Der Tag ist grau. Doch der 83-jährige hat die Fenster geöffnet und findet, er brauche kein Feuer mehr zu machen; es sei warm genug. <

 

Am 25. Juli 1978 wird in Oldham GB Louise Brown geboren, das erste sogenannte Retortenbaby. Die 32-jährige Mutter Leslie Brown hat neun Jahre lang vergeblich auf Nachwuchs gehofft. Ihre Eileiter sind undurchlässig, Ei und Same können nicht zusammenkommen, Leslie gilt medizinisch als steril. Nun aber bringen die Doktoren Patrick Steptoe und Robert Edwards Ei und Same der Eltern in einer Glasschale zusammen. Dort macht das Ei die ersten Entwicklungsschritte; dann kommt der junge Keim in die Gebärmutter. Knappe neun Monate später wird Louise Brown durch einen Kaiserschnitt entbunden und erweist sich, allen Skeptikern zum Trotz, als gesunder Säugling.

 

Die Kamera der „Plans Fixes“, die im selben Jahr Jacob Sumi am Col des Mosses besucht, trifft auf andere Verhältnisse. Der 83-jährige erinnert sich an sechs Geschwister. Sie stammen aus der zweiten Ehe des Vaters. Die anderen acht aus der ersten Ehe hat er nicht gekannt. Sie waren schon ausgeflogen, als er am Mittwoch, den 13. November 1895 zur Welt kam. Jacob sagt, er habe eine böse Mutter gehabt, und schüttelt dazu den Kopf. Wenn die Kinder fragten, ob sie auf der oberen Matte spielen dürften, rief sie: „Schyssdräck!“

 

Der Vater hingegen, der sei lieb gewesen. Jacob fühlte sich bevorzugt, als er ihn mit 15 Jahren nach Le Sépey begleiten durfte, wo die beiden als Holzer und Dachdecker arbeiteten. Nach vollbrachtem Werk kehrten sie heim. Sieben Stunden dauerte der Marsch über den Col des Mosses. Doch Jacob war geübt. Zwischen zehn und vierzehn Jahren hatte er als Geisshirt gearbeitet.

 

Im Band „Saanen“ seiner unschätzbaren Dokumentation „Bärndütsch als Spiegel bernischen Volkstums“ (1905–27) hat Emanuel Friedli das Tagwerk beschrieben: „Der Hirte sammelt allmorgendlich bi n den sibne umha [um die sieben] mit wiederholtem hoorne [tuten] die ihm anvertrauten Tiere im Döörffli und dessen Umgebung und bringt die Rieschele [Reihe] zur abendlichen Mälcheszit [Melkzeit] auf die Dorfstrasse zurück. Da ist bereits Eignerin um Eignerin vor der Tür, ihr Tier chon ubercho (in Empfang nehmen) – hoffentlich mit vollem Utter, süst ...! [mit vollem Euter, sonst ...] Ist das Euter schlaff, so ist der Hirte schuld. Denn e Pfarrer un e Schuelmeister un e Geisshirt mache’s nie allne rächt u chönne’s nie allmu träffe [ein Pfarrer und ein Schulmeister und ein Geisshirt machen es nie allen recht und können es nie in allem treffen].“

 

Laut Friedli wurde der Geisshirt mit 8 Franken vam Stück entlöhnt. Das war 1925. Zwischen 1905 und 1910 jedoch erhielt Jacob Sumi nur zwei Franken pro Stück und Jahr. Das machte, bei einer Herde von hundert Häuptern, zweihundert Franken. Doch mit vierzehn verlor er davon achtzig. Zwei Polizisten hatten ihn mit einem Gewehr auf der Schulter angetroffen und der Wilderei angezeigt. Der Alte erklärt: „Ich habe nie ein Tier getötet!“ Aber die Beteuerungen nützten nichts. Im Schloss Aigle musste er dem Regierungsstatthalter vierzig Zweifränkler auf den Tisch zählen. Der Mann klopfte ihm am Schluss auf die Schultern: „Dank dir können wir leben.“

 

Später brachte sich Jacob Sumi mit Holzfällen durch. Er bekam ein leeres Chalet angewiesen, das der Gemeinde Col des Mosses gehört. Er ging seiner Arbeit nach bis zum Alter von 82 Jahren, ein Jahr vor dem Besuch der „Plans Fixes“. Jetzt lebt er mit einem Kaninchen, einem Huhn und zwei Katzen unter einem Dach. Im übrigen war er immer allein.

 

Gebeugt schlurft er aus dem Haus und setzt sich in die Laube. Sein rechtes Auge tut weh. Es schmerzt ihn so, dass er es am liebsten ausstechen möchte. Immer wieder beugt er sich nieder und wischt sich mit einem schmierigen Lappen über das schmerzende Organ. Er vergisst, mit den Leuten zu reden, und versinkt in seinem Schmerz.

 

Er vergesse ohnehin viel, erklärt er. Wenn er die Küche verlasse und in die Stube trete, wisse er oft nicht mehr, was er dort tun wollte. Dann müsse er in die Küche zurück, damit es ihm in den Sinn komme. „Die Gegenwart vergesse ich“, sagt er, „aber nicht die Vergangenheit. Ich weiss immer noch die Namen meiner Kameraden aus der Rekrutenschule.“ Wenn Jacob die langen Wintertage im Bett verbringt, denkt er oft an sie.

 

Oft geht er aber auch an die Wärme des Passrestaurants. In diesem Moment taucht, wie gerufen, die Serviertochter auf. Sie kommt viel bei Jacob vorbei. Und sie hat ihm auch schon ein paarmal das Leben gerettet. „Wenn wir um sieben den Betrieb aufmachen,“ erzählt sie, „ist er schon da, und er geht erst, wenn wir schliessen. Dann legt er sich draussen bei hohem Pegel zum Schlafen in den Schnee. Ich aber nehme die Taschenlampe, halte nach ihm Ausschau, und sobald ich ihn finde, wecke ich ihn auf und bringe ihn nach Hause.“

 

Von einem Eintritt ins Altersheim will Jacob nichts hören: „Dort haben sich zwei erhängt! Lieber gehe ich ins Gefängnis! Im Altersheim wird man nur von Frauen betreut. Die würden besser heiraten. Nein, ich bleibe hier!“ Aber ist es hier nicht langweilig? „Nie“, beteuert Jacob. „Ausser, wenn Leute vorbeikommen wie Sie!“ Nun wendet sich der Alte ab, nimmt den schmutzigen Lappen hoch und drückt ihn wieder aufs schmerzende Auge. Seine knotigen Hände tragen die Spuren lebenslanger Arbeit.

 

Als Schutzheiliger der Landarbeiter hat der Heilige Ermenfroy (der im 7. Jahrhundert am Doubs gelebt haben soll) immer die niedersten Arbeiten gesucht. „Manchmal verbrachte er ganze Tage damit, das Getreide auszusieben, das die anderen in der Scheune gedroschen hatten“, berichtet seine Vita. „Er liebte die Arbeit und die Arbeiter; wenn er die schwieligen Hände der Pflüger sah, verbeugte er sich, um mit zärtlichem Respekt diese edlen Zeichen der Arbeit zu küssen.“

 

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