Azari Plissetski: Tänzer, Choreograph und Ballettlehrer.

13 Juli 1937 –

 

Aufgenommen am 8. März 2015 in Lausanne.

Azari Plissetski – Association Plans Fixes

 

> Auf der Bühne: Grosse, weite Sprünge; imponierende Ausdruckskraft. Im Film: Völlige Reglosigkeit; während der Aufnahme bleiben Stimme, Gesicht, Augen und Hände unbewegt. Azari Plissetski, der russische Tänzer, Choreograph und Lehrer, hält sich in Zucht. Denn er ist ein Kind des Stalinismus. Mit der Mutter zusammen wuchs er in einem Straflager auf. Die ersten Worte, die er sprach, waren: „Ich will aus der Zone!“ <

 

Nachdem Azari Plissetski zur Welt gekommen war, wurde sein Vater erschossen. Der Kommissar erkundigte sich zuvor noch telefonisch im Spital, wie die Geburt verlaufen sei: „Ein Junge“, sagte er zum Vater gewandt. Dann erfolgte die Exekution. „Das war Bestandteil der Tortur“, erklärt der 76-jährige Tanzprofessor im Übungsraum des Béjart-Studios in Lausanne.

 

Wie bei allen Terror-Regimes sorgte in der Sowjetunion der Stalin-Zeit eine ausgeklügelte Methode von Einschüchterung und Grausamkeit für Linientreue. Ein Mucks genügte, und man verschwand. Zuweilen reichte ein Verdacht oder eine haltlose Denunziation. Lieber einer zu viel als einer zu wenig, sagte sich das System. Mit dieser Regierungsweise blieb es still im Karton.

 

Die Ermordung von Azari Plissetskis Vater diente der Einschüchterung allfälliger Widersacher in den obersten Rängen der Staatskünstlerschaft. Onkel und Tante, Asaf und Sulamith Messerer, waren Solisten im Bolshoi-Ballett. Die Mutter – bis zur Verhaftung des Vaters – Stummfilmdiva. Jetzt wurde sie mit dem Säugling (beide waren in den Augen des Systems „kontaminiert“) in ein Lager für die Angehörigen von Oppositionellen verfrachtet, im Viehwagen natürlich.

 

Eigentlich bezweckte der Gulag, dass seine Insassen von den andern „draussen“ („in der Freiheit“ kann man natürlich nicht sagen) „vergessen“ wurden; schon nur, weil die Erwähnung ihres Namens für die Sprechenden gefährlich war. Doch Onkel und Tante hatten den Mut, wenn nicht die Verwegenheit, die Beziehungen zu benutzen, die ihnen ihre prominente Stellung im Kulturleben gab, um Mutter und Kind aus dem Lager loszubekommen. Die beiden durften in der Provinz unter polizeilichen Auflagen leben, bis sie – wiederum unter Vermittlung von Onkel und Tante – nach Moskau zurückkamen, wo Azari am Konservatorium einen Platz neben Vladimir Ashkenasi in der Klasse hochbegabter Klavierschüler erhielt.

 

Doch sein Herz schlug fürs Ballett. „Tänzer ist nicht ein Beruf, sondern eine Diagnose“, sagt er im Film. Bruder und Schwester traten schon im „Nussknacker“ auf. Und so einen schönen Säbel und so eine schöne Uniform wie der Bruder wollte Azari auch tragen. Darum wechselte er in die Tanzklasse. Er schloss die Ausbildung mit der Bestnote ab. Sie gab ihm die Berechtigung, in die Bolshoi-Truppe einzutreten. Doch ein Funktionär („ein Beamtenarsch“, sagt der ehemalige Tänzer im Film) fand, es gebe schon „zu viele Plissetskis im Staatsballett“. In der Tat: Onkel, Tante, Bruder, Schwester waren bereits namhafte Exponenten der Truppe. Das fünfte Mitglied der Familie, Azari, hielt man deshalb vom Bolshoi mehrere Jahre fern, Begabung hin oder her: „Das vergesse ich dem Beamtenarsch nie.“

 

Erst mit 34 Jahren kam Azari Plissetski für die „Spartakus“-Premiere als Solist wieder auf die Bretter des Bolshoi. Man instruierte ihn, dass es verboten sei, den Blick auf die erste Loge oben links zu richten. Dort sass Stalin, der Mörder seines Vaters. Aber Azari hielt sich gut. Und erst recht seine Schwester: „Sie hat eine blendende Technik“, erklärt der „Concise Oxford Dictionary of Ballet“ in seiner zweiten Auflage 1982. „Nichts scheint ihr unmöglich; die Beweglichkeit ihrer Arme und Hände ist einmalig (uniquely supple). Auch als Schauspielerin umwerfend (a spellbinding actress). Verschiedene Rollen in Spielfilmen, zum Beispiel Anna Karenina, 1968.“

 

Bald traten Bruder und Schwester zusammen auf und tourten mit dem Bolshoi-Ballett nach Paris und New York. Bei einem Gastspiel in der Mongolei begrüsste sie die russische Botschafter Molotow (unter Stalin Minister) am Flughafen. „Erst später merkte ich, dass ich die Hand geschüttelt hatte, die das Todesurteil gegen meinen Vater unterzeichnet hatte.“

 

Fern von Moskau begann sich Azari Plissetski zu entfalten, als Tänzer, Choreograph, Ausbildner, Regisseur. Zuerst in Havanna, dann in Madrid schuf und prägte er seine Truppen. 1991 wurde er Lehrer am Béjart Ballet Lausanne und an der Ecole-Atelier Rudra Béjart, wo er bis heute unterrichtet.

 

Die Freiheit, der See, die Weite, das Licht, die Sauberkeit, die hochbegabten jungen Menschen – mit heute 83 denkt Azari Plissetski nicht ans Aufhören. In Lausanne ist ihm die Welt noch einmal geschenkt worden. Während er von den früheren Zeiten ohne Regung spricht, wirkt er im Film wie ein wacher 60-jähriger, der aus der Ruhe heraus den Tatsachen ins Auge blickt.

 

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