Jean-Pierre Bovay: Vom Stadion zu den Chronographen.

4. April 1932 – 17. August 2020.

 

Aufgenommen am 19. Juni 2012 in Biel.

Jean-Pierre Bovay – Association Plans Fixes

 

> Er glaube nicht an den Zufall, sagt Jean-Pierre Bovay. Alles, was geschehe, werde durch Kausalität bestimmt. Sein Lebenslauf ist dafür ein Beispiel: Die Entwicklung führte den Elektroingenieur vom Umgang mit der Zeit zur Erkenntnis der Zeit. <

 

Geradlinig mündet Jean-Pierre Bovays Leben in die Stunde, in der das Filmteam der „Plans Fixes“ am Hohlenweg 4 in Biel-Madretsch seine Apparate aufstellt, um in einem 50-minütigen Gespräch festzuhalten, was der Achtzigjährige über Zeit und Ewigkeit herausgefunden hat.

 

Die Aufnahme beginnt mit Jugenderinnerungen – also mit der Mitteilung erlebter Zeit: „Wir verbrachten die Ferien auf dem Col des Mosses. Als ich eines Morgens auf den Balkon trat, stiess ich auf ein Maschinengewehr. Der Zweite Weltkrieg war ausgebrochen.“ Die erlebte Zeit wurde zur geschichtlichen Zeit.

 

Jean-Pierre war sieben. Als der Weltkrieg zuende ging, war er dreizehn. Der Berufswunsch Elektroingenieur begann sich in ihm zu formen. Er hatte nämlich einen Experimentierkasten bekommen.

 

Während er mit Drähten und Schaltern, Klingeln und Glühbirnen hantierte, lernte er den Umgang mit der strengen Kausalität: Der Strom, der alles antrieb, floss nur in eine Richtung – gleich wie die Zeit. (Aber deren Wesen ging ihm erst Jahrzehnte später auf.)

 

Jean-Pierre war indes alles andere als verbohrt. Als er beim Vorstellungs­gespräch fürs Elektroingenieurstudium gefragt wurde, was er tun würde, wenn er nicht aufgenommen würde, antwortete er: „Oh, dann werde ich Maler!“

 

Die bildnerische Seite hatte sich nämlich in ihm, zum Leidwesen der Eltern, auch ausgebildet. Doch die Erzeuger machten Druck auf ihn, einen anständigen Beruf zu ergreifen, damit er später eine Familie durchbringen könne.

 

Die Ingenieurschule ihrerseits kam nicht darum herum, ihn zum Studium zuzulassen, denn er hatte die beste Aufnahmeprüfung hingelegt. So schmiedete das Schicksal ein weiteres Glied in der Kausalitätskette.

 

Das Diplom führte Jean-Pierre Bovay in die Fernsehtechnik. Fürs erste Studio der Schweiz, Bellerive in Zürich, baute er Apparate, die es erlaubten, bewegte Bilder in die Wohnstuben zu bringen. Lauter Prototypen. Durch sie kam der junge Ingenieur ein gehöriges Stück weiter.

 

Dann wechselte er die Seite: von der Fernsehproduktion zur Produktion von Fernsehern. Am Mittag ging er, wie damals üblich, zum Essen nach Hause. Die Wohnung stand am Rand der Bieler Altstadt. Da stiess er vor der Tür auf den Entwicklungsleiter der Omega: „Wir brauchen Sie!“

 

Es ging um Zeitmessung im Sport. Bisher hatten an den Olympischen Spielen die Juroren untereinander ausgeknobelt, welche Messung eines Athleten zu berücksichtigen sei. Nun ging es darum, das Verfahren zu objektivieren, sprich: Willkür auszuschalten. Das sollte mit Kameras geschehen, die Bilder und Zeiten miteinander aufnehmen konnten. Jean-Pierre Bovay wurde mit dieser Entwicklung beauftragt.

 

Er nahm sich zwei Dinge vor: 1. Nichts noch einmal erfinden, was schon erfunden worden ist. („Darin liegt der Ehrgeiz vieler Ingenieure, die sich ein Denkmal setzen wollen.“) 2. Alle Vorgaben ignorieren und selber denken.

 

Ohne es zu wissen, folgte Jean-Pierre Bovay damit der Anweisung, die der Frühaufklärer Christian Thomasius 1691 an den Anfang seiner „Vernunft-Lehre“ gesetzt hat: „Miste vor allen Dingen zuerst deinen Verstand aus, das heisst: Lege die Verhinderungen [Tabus] weg und bestreite die Vorurteile als den Ursprung aller Irrtümer.“

 

Es war klar: Je zeitnäher im Sport die Messungen vorlagen und je mehr Augen sie sahen, desto unwiderruflicher war den bisherigen Mauscheleien der Riegel geschoben.

 

Naheliegend, dass nun das österreichische Fernsehen auf die Omega – und damit auf Jean-Pierre Bovay – zukam. Es wünschte eine Technik, die es erlaubte, bei der Übertragung von Skirennen die Zeiten auf den Bildschirm der Heimgeräte zu bringen.

 

Nachdem er den Auftrag erfüllt hatte, kam Jean-Pierre Bovay aufs Foto Finish: Das Auge einer starren Kamera erfasst die Körper beim Durchqueren der Ziellinie. „Damit wird die Zeit zum Bild“, erklärt er. Philosophisch bedeutete das für ihn eine neue Erkenntnis: „Die Zeit ist ein physikalisches Feld, das heisst: unanschaulich. Wir können nur seine Auswirkungen messen und zur Darstellung bringen.“

 

Das Gespräch für die „Plans Fixes“ führt nun in Tiefen, die sich der Mitteilung entziehen. Deshalb behält Jean-Pierre Bovay in der Regel seine Erkenntnisse für sich. Wenn er trotzdem weiterspricht, können ihm nur noch Eingeweihte folgen, die sich mit Philosophie und Grundlagenphysik beschäftigt haben.

 

Es geht, unter anderem, um das, was Stephen Hawking die „imaginäre Zeit“ genannt hat:

 

Diese lässt sich von den Richtungen im Raum nicht unterscheiden. Wenn man nach Norden geht, kann man kehrt machen und sich südlich halten. Genauso kann man, wenn man sich in der „imaginären“ Zeit vorwärts bewegt, kehrt machen und rückwärts gehen. Dagegen gibt es in der „realen“ Zeit, wie wir alle wissen, einen gewaltigen Unterschied zwischen Vorwärts- und Rückwärtsrichtung.

 

Der Unterschied zwischen „realer“ und „imaginärer“ Zeit führte Arthur Schopenhauer zur Feststellung:

 

Was gewesen ist, das ist nicht mehr; ist ebenso wenig [vorhanden] wie das, was nie gewesen ist. Aber alles, was ist, ist im nächsten Augenblick schon gewesen. Daher hat vor der bedeutendsten Vergangenheit die unbedeutendste Gegenwart die Wirklichkeit voraus; wodurch sie zu jener sich verhält wie etwas zu nichts.

 

Man ist mit einem Male, zu seiner Verwunderung, da, nachdem man, zahllose Jahrtausende hindurch, nicht gewesen ist, und, nach einer kurzen Zeit, ebenso lange wieder nicht mehr zu sein hat. Jedem Vorgang unseres Lebens gehört nur auf einen Augenblick das Ist; sodann für immer das War. Jeden Abend sind wir um einen Tag ärmer.

 

Aus Betrachtungen wie den obigen kann man allerdings die Lehre gründen, dass die Gegenwart zu geniessen und dies zum Zwecke seines Lebens zu machen, die grösste Weisheit sei; weil ja jene allein real, alles andere nur Gedankenspiel wäre. Aber ebenso gut könnte man es die grösste Torheit nennen: denn was im nächsten Augenblick nicht mehr da ist, was so gänzlich verschwindet wie ein Traum, ist nimmermehr eines ernstlichen Strebens wert.

 

Wenn wir nun in der „imaginären Zeit“ Jean-Pierre Bovay so begegnen, wie ihn am Dienstag, den 19. Juni 2012 das Filmteam der „Plans Fixes“ am Hohlenweg 4 in Biel-Madretsch festgehalten hat, so spricht er zu uns über sein Leben und seine Einsichten, als befänden wir uns miteinander im selben Raum. Und obwohl er in der „realen Zeit“ abwesend ist, stehen wir – über Zeit und Endlichkeit hinaus – mit ihm im Dialog.

 

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