Nane Cailler: Galeristin.

8. Juni 1934 –

 

Aufgenommen am 12. Januar 2006 in Pully.

Nane Cailler – Association Plans Fixes

 

> IIm Alter von 19 Jahren erhielt Nane Cailler von den Eltern eine Kunstgalerie in Genf. Damit war ihr Beruf gegeben: „Das Glück besteht darin, dass man da steht, wo man seiner Natur nach hingehört.“ (Theodor Fontane) Jetzt ist sie 71 und denkt nicht an Pensionierung: „Das ist unmöglich.“ „Warum?“ „Ich habe die Altersgrenze schon überschritten.“ <

 

„Hänsel und Gretel erschraken gewaltig. Die Alte aber wackelte mit dem Kopfe und sprach: ‚Ei, ihr lieben Kinder, kommt nur herein und bleibt bei mir, es geschieht euch kein Leid.‘ Sie fasste beide an der Hand und führte sie in ihr Häuschen.“ Nun ist aber die Frau, die in den „Plans Fixes“ mit dem Kopfe wackelt, keine Hexe. Ihr Häuslein ist nicht aus Brot gebaut und mit Kuchen gedeckt, und die Fenster sind nicht von hellem Zucker. Das Lokal steht auch nicht im Wald, sondern in Pully am Genfersee. Was die Menschen dort herbeilockt, ist nicht Milch oder Pfannekuchen mit Zucker, nicht Äpfel und Nüsse – es ist grafische Kunst. Aber noch immer meinen die Kunden, wie seinerzeit Hänsel und Gretel, „sie wären im Himmel“.

 

Die 71-jährige Galeristin blieb ein Leben lang der Linie treu, Kunst möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen. Darum setzte sie auf Stiche und bemühte sich, wie sie sagt, stets um den „richtigen“ Preis. Die ange­kommenen Künstler, die schon dort und dort und dort ausgestellt hatten, interessierten sie nicht, sondern die kommenden, die ihren Wert noch nicht kannten, an sich zweifelten und deshalb zu fördern und zu begleiten waren. „Wer selbstüberzeugt auftritt und meint, er brauche sich nichts sagen zu lassen, bringt es in der Regel nicht weit. Der wahre Künstler ist unsicher, voller Fragen, anerkennungsbedürftig.“

 

O ja.

 

Es ist keine lächerliche Empfindsamkeit, was mich so schreiben lässt, es ist ein wirklicher, guter, ehrlicher Krankheitszustand, wie ihn dieser äusserste Mangel an Zuspruch, Teilnahme, Anerkennung hervorgebracht haben. Nehmen Sie meine Briefe „aus Manchester“. Sie füllen fast ein Buch, der behandelte Gegenstand ist neu und ziemlich gründlich, wie ich glaube, nicht ohne ein paar Gedanken und jedenfalls mit grosser Vorliebe von mir behandelt worden. Nie hab ich ein Wort darüber gehört, wie man diese Briefe aufgenommen hat. Ein oder zwei Monate vor seinem Tode schrieb Kugler [ein Schriftstellerkollege] an den Rand eines Briefes: „Schönen Dank für deine Berichte aus Manchester; sie sind für mich geschrieben.“ Das tat mir wohl; aber ich frage Sie, ist es nicht etwas wenig, wenn man in der Fremde über eine lange, mit Vorliebe gemachte Arbeit weiter nichts hört als das eine Wort? Ich weiss wohl, dass es immer so geht, dass Platen und Heine [die beiden überragenden Lyriker des 19. Jahrhunderts] selbst wenig oder nichts über ihre Sachen erfuhren, mit Ausnahme einer tadelnden Rezension, die ihnen dann und wann ein guter Freund zutrug; aber die Erwägung, dass es bessren Leuten nicht besser ergangen ist als mir, ist doch wirklich kein grosser Trost. Sie sind freundlich genug, an einer Stelle Ihres Briefes zu schreiben: „Sie haben doch am wenigsten Ursach, sich über Mangel an Anerkennung zu beklagen“, und es ist wahr, ich glaube, dass das bisschen Anerkennung, das ich gefunden habe, meinem Talent und meiner Leistungsfähigkeit vollauf entspricht. Aber diese Anerkennung dringt nicht hierher, ich seh und höre seit Jahren nichts davon. (Theodor Fontane)

 

Anders verhält es sich natürlich bei denen, welche öffentliche Anerkennung gefunden haben. Der Vater von Nane, der in Genf die Galerie Cailler betreibt und in Paris das Büro hat, schickt die 20-jährige Tochter 1954 zu Picasso, damit er die 220 Abzüge einer Grafik signiert, die der Galerist erworben hat. Der Meister setzt sich gelassen ans Werk, fährt mit der Hand über die Blätter und plaudert vor sich hin: „Sehen Sie, Fräulein. Das ist ein Kunstwerk. Ich signiere es. Nun ist es eine Banknote.“

 

Vor Spekulation indes hat Nane Cailler Abscheu. Ihr Markenzeichen ist die Ehrlichkeit. Nie, erklärt sie, habe sie ein Bild erworben, bevor es in der Galerie aufgehängt und den Kunden angeboten worden sei. Es sei ihr auch zuwider, vor den Besuchern zu sitzen. Das gehöre sich nicht. Ihre Leidenschaft aber sei das „Hängen“, das heisst die Werke ins beste Licht stellen. Natürlich sei nicht alles gleich stark. Es sei dann ihr Geschick, die schwächeren Sachen nebenaus zu stellen, damit sie dem Künstler nicht schadeten.

 

Mütterlich und resolut, intuitiv und erfahrungsgesättigt geht Nane Cailler mit allen um, die ihr begegnen: den Künstlern, den Bildern, den Besuchern – und nun auch den Filmleuten der „Plans Fixes“. Mit fünfzig ist der Umbruch geschehen. Da kam sie bei sich an. Sie schmiss alle Diplomatie, Heuchelei und Unaufrichtigkeit in den Kübel, stand zu ihren Gefühlen und äusserte sie. Im Umgang mit den andern sprach sie nun frank und frei. Von da an hiess die Galerie auch nicht mehr „La Gravure“, sondern trug ihren Namen: „Galerie Nane Cailler“. – Ein befreundeter Psychiater stellte fest: „Vorher warst du eine Intellektuelle. Jetzt bist du ein Mensch.“ Die 71-jährige: „Das ist das Schönste, was man mir je gesagt hat.“

 

Nane Cailler hat jene Wachstumskrise bewältigt, die von den Psycho­analytikern als zweite Pubertät bezeichnet wird. In der ersten Pubertät geht es darum, den Wechsel von der Introversion zur Extraversion zu vollziehen, erklärt Lisbeth von Benedek von der Universität Paris XIII. Der unbewusste Zustand des Kindes wird ersetzt durch die Beziehung zur Realität. Nun wird der Blick der andern wichtig, und wie man vor ihm besteht. Bei vielen gleiten dabei die Gefühle ins Unbewusste. In der zweiten Pubertät geht es nun darum, die Emotionalität ins seelische und geistige Leben des Erwachsenen zu integrieren. Häufig, aber nicht immer, sei das der Sinn der Depression.

 

Nane Cailler spricht im Film nicht von einer Krise. Sie empfand die Selbstwerdung einfach als Auf-bruch: Der Panzer zerbrach. Hervor trat der lebendige Mensch, der mit seiner Authentizität Besucher und Künstler der „Galerie Nane Cailler“ in Pully zu beglücken begann – und heute die Zuschauer der „Plans Fixes“.

 

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