Georges-André Chevallaz: Vom Historiker zum Politiker.

7. Februar 1915 – 8. September 2002.

 

Aufgenommen am 15. Dezember 1990 in Epalinges.

Georges-André Chevallaz – Association Plans Fixes

 

> Georges-André Chevallaz war der erste Bundesrat, dem, ein paar Jahre vor Adolf Ogi, die Demütigung widerfuhr, nach der Arbeit in einem vornehmen Department (im konkreten Fall den Finanzen) ins Militär-, also ins Anfängerdepartment abgeschoben zu werden. Der 75-jährige Politiker streift nun in seinem Lebensrückblick für die „Plans Fixes“ die Zeit in der nationalen Exekutive mit keiner Silbe. Anderseits ist die erste Lebenshälfte farbig genug. <

 

1990 wird Georges-André Chevallaz vom Filmteam der „Plans Fixes“ besucht. Heiter gibt er Auskunft über seinen Werdegang, und bereitwillig nimmt er die Stichworte auf, die ihm der Befrager Bertil Galland zuwirft, auch wenn die Qualität des Gesprächs dadurch leidet. Denn Galland ist der Mann, der gern zwei Fehler macht. Erstens: Er ist nicht an Vertiefung interessiert, sondern an munterem Plaudern. Darum bringt er laufend Namen ins Spiel, die keinem Aussenstehenden etwas sagen. So fragt er etwa den 75-jährigen: „Wie hiessen die Lehrer, die Sie am Gymnasium hatten?“ Zum Glück kann Chevallaz Spannendes berichten, etwa über die Eigentümlichkeit des Französisch­lehrers, die Schüler zur Besprechung des Maturaufsatzes zu sich nach Hause zu bitten und ihnen am Ende der halbstündigen Sitzung auf Grund seiner graphologischen Erwägungen die Zukunft vorauszusagen. Bei dieser Gelegenheit vernahm der junge Mann, der das Studium der Geschichte anstrebte (das ihn bis zum Doktorat führte), er werde Präsident einer bedeutenden politischen Körperschaft werden – und in der Tat: mit 42 wurde Georges-André Chevallaz Lausanner Stadtpräsident und mit 65 schweizerischer Bundespräsident.

 

Bertil Gallands zweiter Fehler ist, dass er die Leute in der zweiten Gesprächshälfte gern in die Zukunft blicken lässt, natürlich nicht in ihre persönliche (was soll ein 75-jähriger dazu sagen?), sondern in die grosse. So fragt er jetzt den altgedienten Politiker, wie es seiner Meinung nach weitergehen werde mit Russland, der EU, der Schweiz. Was immer Chevallaz 1990 kommen sieht – wir wissen es heute besser; der Film hat also nur bedingten Wert; und Chevallaz’ Rat, an der bewährten Schweizer Eigenart festzuhalten, hat, wie alle geschichtlichen Maximen, ein inhärentes Ablaufdatum. (Best before ...)

 

Wie heikel Langzeitprognosen sind, zeigt sich auch am Stichwort „Kornhaus Burgdorf“, selbst wenn es im Film nicht zur Erwähnung kommt; vielleicht, weil es in einer deutschschweizerischen Kleinstadt liegt; vielleicht, weil der Gegenstand zu putzig (um nicht zu sagen: unbedeutend) ist. Gleichwohl, das Kornhaus (La Grenette de Berthoud) steht zum Zeitunkt der Aufnahme ein Jahr vor der Eröffnung, und Georges-André Chevallaz hat sich dafür als Galionsfigur und Stiftungsratspräsident einsetzen lassen. Es geht um ein Museum für Volkskunde. 1991, zur 700-Jahr-Feier der schweizerischen Eidgenossenschaft, soll es seine Tore öffnen. Die Volksmusik und das Trachtenwesen, das Alphornblasen, Jodeln und Fahnenschwingen sollen am Eingang zum Emmental eine Heimstatt finden. Der alt Bundesrat ist diesen Bereichen zugetan. Denn er hat seine Wurzeln im Pays d‘Enhaut bei den Bergbauern des Kantons Waadt. Über ihren Kornhandel hat er die Dissertation verfasst. Er schrieb, inspiriert von den Pariser Annalisten, über die Geschichte des Alltagslebens jenseits der Schlachten und Nationen. Georges-André Chevallaz sagt, er habe immer den Winkel geliebt; die Leute seien dort lebendiger, eigenständiger, interessanter und interessierter als in den Metropolen. Deshalb halte er lieber Vorträge in Le Sépey oder Le Brassus als in Zürich oder Genf.

 

Aber das Museum für Volkskunde ist ein totgeborenes Kind. Es gelingt der Stiftung nicht, regelmässige Finanzbeiträge ausserhalb des Kantons Bern zu erwirken. Auch die Szene, organisiert in Trachten-, Jodler-, Trommler-, Alphornbläser-, Fahnenschwinger- und Blasmusikvereinigungen, findet an der sterilen Ausstellung von Sachen und Stoffen hinter Vitrinen wenig Interesse. Da kann die SRG, der „idée suisse“ verpflichtet, lang die Werbetrommel rühren. Während zwei Jahren organisiert sie eine „volkstümliche Stafette durch die Schweiz“. Am Samstagnachmittag übertragen die ersten Radioprogramme live die Auftritte beflissener Laienmusiker, zum Beispiel aus La Neuveville. Das Festzelt fasst 600 Besucher. Sie sitzen mit Bier, Bratwurst und Weisswein an langen Tischen und haben sich dermassen viel zu erzählen, dass sie vergessen, auf die musikalischen Darbietungen zu achten, geschweige denn zu applaudieren. Die Nebengeräusche sind so stark, dass die Leute zuhause den Empfänger abdrehen.

 

Anders in Genf. Da steht eine Freiluftbühne am Eingang des Parc des Bastions. In hübschen Trachten geben Chöre und Musikanten ihr Bestes. Aber im Zuschauerbereich herrscht gähnende Leere. Niemand bleibt stehen, um sich in der Weltstadt als Volksmusikfreund zu outen. Plötzlich beginnt das Telefon auf dem Pult des Übertragungstechnikers zu blinken: „Wir haben kein Signal mehr! Wir senden schon seit acht Minuten Platten aus dem Studio. Was ist los bei euch?“ Der Techniker untersucht das Sendepult, und der Operateur geht auf die Pirsch. Er folgt dem Übertragungskabel bis zum Parkeingang und erkennt, dass es aus der Anschlussstelle gezogen worden ist. Der Redaktor entscheidet, dass es sich nicht mehr lohne, sich wieder ins Programm einzuklinken. Die Sendezeit sei ohnehin bald um: „Wir lassen uns nichts anmerken und tun so, als ginge alles seinen normalen Gang, damit die Musiker nicht enttäuscht werden.“

 

Unter diesen Auspizien serbelt das Museum für Volkskunde – eine Kopfgeburt von Vereins- und Verbandsfunktionären – vierzehn Jahre lang vor sich hin, bis es, chronisch unterfinanziert, den Betrieb aufgeben muss. Falls Georges-André Chevallaz die Schlappe kommen sah: angesprochen hat er sie nicht. Die „Plans Fixes“ aber bereiten ihm eine weitere vor, die bis zur Stunde nachwirkt.

 

2011, 21 Jahre nach der Aufnahme, 9 Jahre nach dem Tod des Porträtierten, wird das Dokument umkopiert in ein elektronisches Format, um als DVD für 29 Franken angeboten werden zu können. Der Datenträger enthält auch das Porträt von Pascal Couchepin, dem Walliser Bundesrat. Heute stehen die beiden Filme im Netz und können, nebst allen anderen, auf der Plattform der „Plans Fixes“ abgespielt werden.

 

Aber im Unterschied zu allen anderen ist der Chevallaz-Film falsch formatiert worden. Das Bild ist so verzerrt, dass das Zuschauen weh tut. Die Funktio­näre der Filmsammlung scheinen – im Unterschied zu Georges-André Chevallaz, dem Major der Schweizer Armee mit tausend Aktivdiensttagen und späteren Vorsteher des eidgenössischen Militärdepartements – die drei K’s nicht zu kennen: Kommandieren, kontrollieren, korrigieren. Achtzig Prozent aller Probleme gehen darauf zurück, dass der Schritt vom ersten zum zweiten K vergessen wurde.

 

Im alten Bern gab es das volkstümliche Sprichwort: „Wer schaut und hört, zahlt kein Reugeld.“ Das Haltbarkeitsdatum dieser Weisheit ist, wie der Chevallaz-Film zeigt, noch nicht abgelaufen.

 

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