Georges Simenon: Romancier.

12. Februar 1903 – 4. September 1989.

 

Aufgenommen am 19. Januar 1978 in Lausanne.

Georges Simenon – Association Plans Fixes

 

> Georges Simenon hat sich verkleinert. Die Villa in Epalinges, so gross, dass man sie zu einem Sanatorium umbauen kann, hat er vertauscht mit der bescheidenen Maison Rose am Ufer des Genfersees. Das Schreiben von Romanen hat er aufgegeben. Jetzt diktiert er, was ihm so durch den Kopf geht: Gedanken, Erinnerungen, ohne noch ans Publizieren zu denken. Morgens und nachmittags macht er einen Spaziergang am Arm seiner Theresa, und abends um halb zehn legt er sich nieder. <

 

Gelöst, mild und heiter gibt Georges Simenon Auskunft über seinen Alltag. Doch lange darf das Gespräch nicht dauern, denn Journalisten und Kamerateams stehen Schlange für eine Begegnung. In drei Wochen begeht der Vater von Kommissar Maigret seinen 75. Geburtstag. Nun zündet er zum Schein zwei Pfeifen an, sagt, mit welchem Interesse er den Kulturwandel der Gegenwart verfolge und wie gut es ihm gehe, und schon heisst es für die „Plans Fixes“: Zusammenpacken, weitergehen! Die nächsten warten vor der Tür!

 

Später wird sich Georges Simenon nochmals verkleinern. Er wird keine Interviews mehr geben, fremde Besucher abweisen. Theresa wird ihn ab und zu im Rollstuhl an die Place Saint-François führen, wo er den Uhrmacher in der weissen Schürze mit „Bonjour, docteur!“ begrüssen wird. Die „Mémoires intimes“, mittlerweile erschienen, haben die Kritik in Unbehagen versetzt. Zu schmerzlich ist der Mangel an Gestaltung.

 

Georges Simenon aber hat sich zurückgezogen in ein kleines Leben, wo ihn niemand mehr kennt. Die Tage verbringt er in einer Zweizimmerwohnung irgendwo in Lausanne. In einem letzten Interview erzählt er, wie er da am Fenster sitzt und auf den Himmel blickt, die Wolken vorbeiziehen sieht, die Schneeflocken niederrieseln, und am Abend legt er Hemd und Krawatte ab und geht zu Bett.

 

So unbekannt, wie er am Anfang war, so unbekannt ist er wieder geworden. Kaum zu glauben, dass der alte, leicht verwirrte Mann einer der grössten Schriftsteller seines Jahrhunderts war, oder jedenfalls der, der die meisten Leser hatte. Das Werk hat sich eben längst von einem Autor abgelöst, der in den ersten zehn Jahren seiner Karriere unter dem Namen Georges Sim publizierte.

 

Heute führen die Bücher ein Eigenleben, finden Leser in Ländern, an die der Autor nie gedacht hätte. Als er noch im Vollbesitz seiner Kräfte war, hatte der Romancier bereits den Überblick über seine Produkte verloren. Es war ihm nicht mehr möglich, alle Titel wiederzufinden, die er unter verschiedenen Pseudonymen geschrieben hatte, um sie urheberrechtlich zu schützen.

 

Seine Bücher aber liegen zusammengeklappt in den Drehgestellen der Kioske und Buchhandlungen. Wie Michel Tournier im „Flug des Vampirs“ ausführt, warten sie darauf, dass sie jemand aufschlägt, um zum Leben zu kommen. Dafür brauchen sie das Blut, die Ängste und Sehnsüchte der Leser. Also machen sie sich jede Nacht zu ihrem Flug auf, während der greise Schrift­steller langsam wegdämmert.

 

Was aber haben die Leser von den Büchern? Warum opfern sie ihnen ihre eigene Zeit und ihre eigenen Lebensmöglichkeiten? Liegt es daran, dass ihnen die Bücher helfen, aus der Wirklichkeit zu fliehen, indem sie jene Zeit heraufführen, als Paris noch Paris war und die Omnibusse offene Plattformen hatten, auf denen man rauchen durfte? Am Quai des Orfèvres stand ein eiserner Gussofen in Maigrets Büro. Wenn das Verhör nicht vorankam, stocherte der Kommissar darin herum, trat ans Fenster und sah auf der Seine schwarze Lastkähne im Schleppverband vorbeiziehen.

 

Doch so suggestiv es wirkt, wenn der Regen den Asphalt netzt und die Hitze vertreibt, während der Kommissar die Pfeife stopft – diese Stimmungen genügen nicht, um zu begründen, warum die Maigret-Romane einen solchen Erfolg haben. Ausschlaggebend ist vielmehr, dass der Leser bei Simenon etwas so Altmodisches findet wie Erlösung. Und wo fände er sie sonst? In der Religion? Die, die daran glauben, sind nicht reif für Simenon.

 

Die andern aber, die den Trost des Jenseitigen nicht mehr haben, wissen gleichwohl, dass sie schuldig sind – etwa wenn sie mit dem Auto zur Arbeit fahren oder in ein Flugzeug steigen. Sie sind schuldig, dass sie nichts unternehmen gegen das Elend der Migrationsströme, die Kinderarmut, den CO2-Ausstoss. Und nun schlagen diese Schuldigen einen beliebigen Maigret-Roman auf und erleben, dass der Allerschuldigste, nämlich der Mörder, erlöst wird durch ein Verhör, das seine Lebensumstände erhellt und erklärt. „Verstehen“, sagt der Kommissar, „nicht urteilen.“

 

In einem seiner Romane schreibt Simenon, Maigret habe Sehnsucht nach der Welt der Kinderbücher, in der alle an ihrem Platz sind: der Milchmann, der Briefträger, die Mutter, das Kind. Und weil sich Maigret nach dieser Bilderbuchwelt zurücksehnt, räumt er auf in der verkehrten Welt, in der es Verbrechen gibt und Angst und Armut. Bei Simenon aber ist der Mörder nie der Böse. Sondern er ist jener Mensch, der am stärksten unter der verkehrten Welt gelitten hat. Mit seiner Tat wollte er eigentlich bloss etwas unerträglich Falsches in Ordnung bringen.

 

In den Maigret-Romanen geht es also darum herauszufinden, was nicht stimmt; und wenn der Kommissar das erkennt, dann weiss er auch, wer der Mörder ist. Der Mörder aber hat am Schluss die Chance zum Geständnis: „Ich bin’s. Ja, ich habe es getan.“ Im Moment, wo er das sagt, ist das Buch zuende. Das Rätsel ist aufgegangen. Die Welt ist erlöst, und der Mörder auch.

 

Im Lauf der Wahrheitsfindung aber lernt der Leser nicht nur verstehen, wie jemand zum Verbrecher wird, sondern er erfährt auch, wie jemand eingebettet ist in ein Milieu und in soziale Konstellationen; und er kann verstehen, dass er nicht der einzige ist, der an seinem Milieu und an seinen sozialen Konstellationen leidet. So wird er am Ende durch das Lesen von Georges Simenon versöhnt mit seiner Welt und Not.

 

Und hier liegt der Grund, warum Millionen von Menschen auf allen Kontinenten die Romane vom Drehgestell nehmen und das Werk von Georges Simenon mit ihrem frischen Blut ernähren, während es um den alten Mann, der irgendwo in Lausanne in einer Zweizimmerwohnung lebt, immer stiller wird, bis ihn der Tod im Alter von 86 Jahren zu sich ruft.

 

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