Philippe Jaccottet: Lyriker.

30. Juni 1925 – 24. Februar 2021.

 

Aufgenommen am 14. Juni 1978 in Grignan (F).

Philippe Jaccottet – Association Plans Fixes

 

> Am 24. Februar starb der Lyriker Philippe Jaccottet im 96. Altersjahr. Zu seinem 95. Geburtstag brachten die Hanser Literaturverlage noch unter dem Titel „Die wenigen Geräusche“ (im Original: „Ce peu de bruits“) seine späten Prosaskizzen heraus. Damit machten sie der deutschen Sprachwelt „eine der grossen Stimmen der europäischen Poesie“ zugänglich. <

 

Der Zauber von Jaccottets Texten liegt darin, mit leisen, unauffälligen Sätzen genau gesehene Wirklichkeit heraufbeschwören: Auf der Veranda das zarte Rotkehlchen; an den Büschen die wispernden Blätter; im Dämmerlicht die verlöschenden Farben. Indem der Dichter das Wahrgenommene mit tastenden, fragenden, häufig auch provisorisch anmutenden Formulierungen umreisst, öffnen sich Durchblicke in neue Dimensionen. Finsternis weckt nicht mehr länger Furcht und Bedrohung: „Der Schatten hat die Gestalt einer Magd angenommen, die dich zum Hereinkommen einlädt.“

 

Das Wunder der (Ver-)Dichtung, die in Wirklichkeit ein Durchlässigmachen ist, ergibt sich nicht als Produkt eines Arbeitsprozesses, sondern es steigt aus dem Zustand der Schaffensbereitschaft auf. Ist er gewonnen, stellen sich die Worte von selber ein.

 

In dieser Beziehung geht es Philippe Jaccottet wie Friedrich Schiller:

 

Bei mir ist die Empfindung anfangs ohne bestimmten und klaren Gegenstand; dieser bildet sich erst später. Eine gewisse musikalische Gemütsstimmung geht vorher, und auf diese folgt bei mir erst die poetische Idee.

 

Und Heinrich von Kleist erkannte:

 

Denn nicht wir wissen, es ist allererst ein gewisser Zustand unsrer, welcher weiss.

 

Während aber Schiller und Kleist beim Dichten nach oben strebten, ins Ideale, das heisst ins Wahre, Gute, Schöne, richtet Jaccottet seine Antennen aufs Dahinter.

 

Der Romanist Friedhelm Kemp erläutert:

 

In jeder Begegnung, zwischen dem Menschen und einer Landschaft oder einer einzelnen Naturerscheinung – eine Wiese im Mai, ein Mandelbaumgarten, ein Starenschwarm –, erschliessen Ich und Welt sich füreinander; eines hilft dem andern; es eröffnen sich Perspektiven, Fernblicke, Durchblicke. Grossen Aufwands bedarf es dazu nicht; ein aufmerksamer Blick, geduldiges Hinsehen genügen. Und dann ist jeder dieser Texte, jedes seiner Fragmente für sich eine Lektion: Es wird uns etwas gelehrt, durch Winke, Fragen, Evokation …

 

Philippe Jaccottet teilt diese Haltung mit Johann Wolfgang von Goethe. In seinem autobiographischen Bericht „Dichtung und Wahrheit“ bekennt der Weimaraner, mit Blick auf die Anfänge:

 

Schon damals hatte sich bei mir eine Grundmeinung festgesetzt, ohne dass ich zu sagen wüsste, ob sie mir eingeflösst, ob sie bei mir angeregt worden oder ob sie aus eignem Nachdenken entsprungen sei. Es war nämlich die: bei allem, was uns überliefert, besonders aber schriftlich überliefert werde, komme es auf den Grund, das Innere, den Sinn, die Richtung des Werks an; hier liege das Ursprüngliche, Göttliche, Wirksame, Unantastbare, Unverwüstliche ... Diese aus Glauben und Schauen entsprungene Überzeugung liegt zum Grunde meinem sittlichen sowohl als literarischen Lebensbau.

 

Die „Übergänglichkeit“ (Walther Killy), die Jaccottets und Goethes Texte charakterisiert, ist nicht das Produkt von „Mache“, sondern „Einhauchung“, das heisst: Inspiration. Darum sind für Goethe die Begriffe „Dämon“ und „Genius“ von hoher Bedeutung.

 

Als sich Johann Peter Eckermann mit Goethe „in den letzten Jahren seines Lebens“ unterhielt, sagte der Sekretär am Montag, den 20. Juni 1831 zum Dichter:

 

Es will mir scheinen, als ob der Ausdruck Komposition bei echten Erzeugnissen der Kunst und Poesie ungehörig und herabwürdigend wäre.

 

„Es ist ein ganz niederträchtiges Wort“, erwiderte Goethe, „das wir den Franzosen zu danken haben und das wir sobald wie möglich wieder loszuwerden suchen sollten. Wie kann man sagen, Mozart habe seinen ,Don Juan‘ komponiert! – Komposition! – Als ob es ein Stück Kuchen oder Biskuit wäre, das man aus Eiern, Mehl und Zucker zusammenrührt! – Eine geistige Schöpfung ist es, das Einzelne wie das Ganze aus einem Geiste und Guss und von dem Hauche eines Lebens durchdrungen, wobei der Produzierende keineswegs versuchte und stückelte und nach Willkür verfuhr, sondern wobei der dämonische Geist seines Genies ihn in der Gewalt hatte, so dass er ausführen musste, was jener gebot.

 

In den „Gesprächen mit Goethe“ findet sich in diesem Zusammenhang auch der Satz:

 

Nun bezieht sich alles vorwärts und rückwärts und ist zugleich an seiner Stelle recht ...

 

Philippe Jaccottet jedoch verweigert sich im Film der „Plans Fixes“ jeder poetologischen Theorie. Seiner Meinung nach wird zu viel geredet, zu viel kommentiert und zu viel geschrieben. Und in der Tat: Sein Werk hat, neben dem von Henri Michaux, die meisten Doktordissertationen und Masterthesen über die französische Literatur des 20. Jahrhunderts hervorgerufen. Die Sachen jedoch sprächen für sich, meint Jaccottet. Man brauche nur zu hinzuhören.

 

Aus diesem Grund will er auch nicht über sich reden. Sein Eigentliches liege in den Texten, sagt Jaccottet, nicht in seinem Alltag. Überhaupt lasse die moderne Medienwelt (wir sind im Jahr 1978!) nur noch Exhibitionisten und Voyeure zu. Dehalb rede er nun lieber über die Künstler, die ihn geprägt hätten.

 

Das Panorama beginnt mit dem legendären, aber heute nicht mehr gelesenen Gustave Roud, und da schon zeigt sich, dass die Kamera die Rede eines Dichters festhält. Denn Philippe Jaccottet schildert nicht nur mit plastischer Anschaulichkeit den Menschen, sondern auch sich selber in der Position des Dabei, Davor, Dazwischen und Daneben.

 

Gegen das Ende der Aufnahme kommt der Interviewer Michel Bory zur Gretchenfrage („Ist es indiskret, wenn ich Sie frage …“):

 

Margarete: Versprich mir, Heinrich!

Faust: Was ich kann!

Margarete: Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?

Glaubst du an Gott?

 

Philippe Jaccottet windet sich wie Faust:

 

Mein Liebchen, wer darf sagen:

Ich glaub an Gott?

Wer darf ihn nennen?

Und wer bekennen:

Ich glaub ihn?

Ich habe keinen Namen

Dafür! Gefühl ist alles;

Name ist Schall und Rauch …

 

Auch wenn er eine klare Antwort auf die Frage nach Gott schuldig bleiben müsse, meint Philippe Jaccottet, fänden sich in seinem Werk verschiedene Antwortfragmente. Die einen tendierten auf nein; die andern, wohl die Mehrzahl, auf ja.

 

Damit läuft das Gespräch mit Philippe Jaccottet am Ende der „Plans Fixes“ auf die Feststellung Georg Christoph Lichtenbergs hinaus:

 

Überhaupt erkennt unser Herz einen Gott; und dies nun der Vernunft fasslich zu machen, ist freilich schwer, wo nicht gar unmöglich.

 

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