Jeanneret M. / Golovtchiner L.: und das Theater Boulimie.

15. März 1935 – / 18. August 1938 –

 

Aufgenommen am 22. März 2010 in Lausanne.

Jeanneret M. Golovtchiner L. – Association Plans Fixes

 

> Seit vierzig Jahre führen nun die beiden in Lausanne das Théâtre Boulimie, ein Haus, das sich ganz der Komik verschrieben hat. Martine Jeanneret war vorher, das heisst bis zum Alter von 35 Jahren, eine ernstzunehmende Schauspielerin am Théâtre de l'Odéon in Paris und an der Comédie de Genève. Und der drei Jahre jüngere Lova Golovtchiner war Regisseur am Universitätstheater von Lausanne und Lehrer für Französisch am Gymnasium. Seit über vierzig Jahren sind nun die beiden ein Paar – zivilrechtlich, menschlich, künstlerisch. <

 

Das Faszinierende tritt gleich von der ersten Filmminute an vor Augen: Das Paar, das den „Plans Fixes“ Auskunft über sein Leben und Wirken gibt, ist ausserordentlich gewinnend. Das liegt zunächst an seiner Lebendigkeit. Namentlich wenn sich Lova Golovtchiner äussert, spricht sein ganzer Körper mit: die Hände, der Mund, die Augen, die Schultern – und wohl auch die Füsse und Beine; doch werden die von den Lehnen der Vordersitze verdeckt. (Die Aufnahme erfolgt im Zuschauerraum des Théâtre Boulimie.)

 

Martine Jeanneret bewegt sich weniger; spricht aber geradeaus in die Linse und ins Mikrofon der Kamera; und diese Offenheit erhöht die Faszination der Begegnung. Das Paar verbirgt sich nicht; weder hinter Floskeln noch hoheitlichem Gebaren. Redefreudig gibt es sich preis: Wir sollen teilnehmen können an dem, was es denkt und fühlt.

 

Damit ist jeder Moment des Gesprächs gefüllt. Martine Jeanneret und Lova Golovtchiner wollen übermitteln, was sie von Theater und Leben verstanden haben, und zwar uns, den Zuschauern, die wir auch nur Menschen sind, so dass wir alle, unter dem Gesichtspunkt des Grundsätzlichen, gar nicht so verschieden voneinander sind, wie wir uns das im Guten oder Schlechten einbilden.

 

Mein Büdelein
Is noch so tlein,
Is noch so dumm,
Ein ames Wum,

Muss tille liegen
In seine Wiegen
Un hat noch keine Hos’.

Ätsch, ätsch!

Und ich bin schon so goss.

 

Wilhelm Busch: Selbstgefällig.

 

Der Rekurs auf die gemeinsame menschliche Basis macht aus, dass wir uns vom Künstlerpaar angesprochen fühlen. Weil das Aufdecken zu seinem „fond de commerce“, das heisst zu seiner Geschäftsbasis, gehört, ist Verbergen nicht seine Sache – weder auf der Bühne noch im Gespräch mit den „Plans Fixes“. Und weil der Humorist, der Komiker gern vom Grossen und Wesentlichen spricht, indem er das Kleine und Alltägliche behandelt – und damit die sokratische Ironie zum Prinzip seines Wirkens macht – realisiert er, was Freud der Literatur zuschrieb: „Ein grosser Dichter darf sich gestatten, schwer verpönte psychologische Wahrheiten wenigstens scherzend zum Ausdruck zu bringen.“

 

Die erste alte Tante sprach:
Wir müssen nun auch dran denken,
Was wir zu ihrem Namenstag
Dem guten Sophiechen schenken.

 

Drauf sprach die zweite Tante kühn:
Ich schlage vor, wir entscheiden
Uns für ein Kleid in Erbsengrün,
Das mag Sophiechen nicht leiden.

 

Der dritten Tante war das recht:
Ja, sprach sie, mit gelben Ranken!

Ich weiss, sie ärgert sich nicht schlecht
Und muss sich auch noch bedanken.

 

Wilhelm Busch

 

Künstlerisch zahlt sich, wie die Erfolgsgeschichte des Théâtre Boulimie zeigt, die scherzende Darstellung des Bösen und Hässlichen, des Unschicklichen und Ungeschickten, des Ungehörigen und Unerlaubten besser aus als die Abbildung einer durch Photoshop korrigierten Oberfläche – und ehrlicher ist diese Sicht auf die Wirklichkeit ohnehin.

 

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