Irma Dütsch: Miteinander den Geschmack teilen.

30.. Oktober 1944 –

 

Aufgenommen am 21. August 2017 in Saas Fee.

Irma Dütsch – Association Plans Fixes

 

 > Auf den 50. Geburtstag hin bekam Irma Dütsch in ihrem Waldhotel „Fletschorn“ Saas Fee von Gault-Millau 18 Punkte – und dazu die Auszeichnung „Koch des Jahres“. Im selben Jahr, 1994, sprach ihr der Guide Michelin als erster Frau in der Schweiz einen Stern zu. Sieben Jahre später, 2001, war sie für Gault-Millau erneut „Koch des Jahres“. – Man braucht Irma Dütsch in den „Plans Fixes“ nur zuzuhören, um zu merken: Sie trägt die Krone gewiss zu recht. Denn sie spricht über ihre Arbeit wie ein Künstler.<

 

„Wir sind gut unterwegs.“ „Aber wir müssen das Profil schärfen.“ „Der nächste Challenge zeichnet sich ab.“ „Es ist unumgänglich, die Strategie neu zu definieren.“ „Wir haben das Outsourcing nicht konsequent genug betrieben.“ „In der Fehlerkultur Ist noch Luft nach oben.“ „Zum Glück sind die Stakeholder gut eingebunden.“ „Aber wir müssen das Label weiterentwickeln.“ „Im Ressourcensegment ist eine Optimierung alternativlos.“ „Sonst schrumpft der Marktanteil.“ „Wir werden die Prozesse in HR verfeinern.“

 

Während sich die Gäste auf 1800 m über Meer in Irma Dütschs Waldhotel „Fletschorn“ bei Tisch unterhalten, wird in der Küche gezaubert. Und das geht merkwürdigerweise ganz ohne Hokuspokus („unterwegs“, „Prozesse“, „Luft nach oben“). Zu den zwanzig Mitarbeitern spricht die Chefin klar, ohne Floskeln, unumwunden, wie sie es auf dem elterlichen Bauernhof im Greyerzerland gelernt hat, wo sie als sechstes von sieben Kindern auf die Welt kam. Als sie acht Jahre alt war, starb der Vater. Da mussten alle einander helfen. Die Mutter verdiente das Geld als Haushaltlehrerin. Die Kinder schauten zu Haus und Küche.

 

Gegenüber meinem Fenster ist ein Hügel, auf dem sich die Kinder der Umgebung zum Spielen versammeln. Obwohl sie ziemlich weit von mir entfernt sind, kann ich alles, was sie sagen, perfekt vernehmen, und ich komme dadurch oft auf gute Gedanken für dieses Buch [Emil oder über die Erziehung]. Jeden Tag täuscht mich mein Ohr über ihr Alter; ich höre die Stimmen von zehnjährigen Kindern; ich schaue nach und erblicke die Statur und die Gesichtszüge von Kindern von drei oder vier Jahren. Diese Erfahrung beschränkt sich nicht auf mich selbst; die Stadtbewohner, die zu mir kommen und die ich zu diesem Thema konsultiere, fallen alle in denselben Fehler.

 

Das geht darauf zurück, dass Stadtkinder, die im Schlafzimmer und unter den Fittichen einer Gouvernante aufwachsen, bis zum Alter von fünf oder sechs Jahren nur zu murmeln brauchen, um sich Gehör zu verschaffen. Auf dem Land ist das ganz anders. Eine Bäuerin ist nicht ständig um ihr Kind herum; es muss lernen, sehr deutlich und sehr laut zu sagen, was es braucht, damit es vernommen wird. Auf den Feldern lernen Kinder, die verstreut sind, weit weg von Vater, Mutter und anderen Kindern, sich auf Distanz Gehör zu verschaffen und die Stärke der Stimme nach dem  Abstand zu regulieren, der sie von denen trennt, die sie hören sollen. So lernen sie, sich wirklich auszusprechen, und nicht bloss einer aufmerksamen Erzieherin ein paar Laute ins Ohr zu hauchen. Wenn ein Bauernkind befragt wird, kann es manchmal aus Scheu nicht antworten; aber wenn es spricht, spricht es deutlich; in der Stadt aber spielt die Erzieherin für das Kind den Dolmetscher; sonst versteht man nichts von dem, was es zwischen den Zähnen murmelt.

 

Jean-Jacques Rousseau

 

Der Erfahrungsschatz der bäuerlichen Kindheit kam Irma Dütsch zugute, als sie mit sechzehn die Kochlehre aufnahm. Denn sie hatte schon viel Wesentliches gelernt: Bescheidenheit; Pragmatismus; zupacken; einander in die Hand arbeiten; bei der Sache bleiben; von den andern lernen. Daraufhin verfeinerte sie ihr Handwerk an den verschiedenen Stationen ihrer Ausbildung: in den Halles von Neuenburg (1964); im Hilton von Montreal (1967); im St. Louis-Club (1969); im Hilton von Mexiko (1971) und in Moskau, Rügen, Singapur und Kreuzlingen.

 

Auf diese Weise kam Irma Dütsch dem erweiterten Kulturbegriff des Philosophen Norbert Hinske näher und näher:

 

Kultur bedeutet nicht die blosse, durchschnittliche Ausführung einer Handlung, sondern deren Steigerung zur grösstmöglichen Vollkommenheit. Kultur hat, wer eine Handlung so auszuführen weiss, wie es an sich der Sache entspricht. In diesem Sinne sprechen wir heute mehr oder minder selbstverständlich von „Esskultur“, „Wohnkultur“, „Sprachkultur“, „Tanzkultur“, „Musikkultur“, „Gebetskultur“. Die dementsprechende Ausführung aller menschlichen Lebensvollzüge insgesamt bedeutete dann soviel wie Kultur überhaupt. Kultur ist demnach in der ursprünglichen Bedeutung nichts, was irgendwo herumsteht. Kultur hat, wer die Stunden seines Lebens nicht vergeudet, sondern ihnen tätig das Menschenmögliche abverlangt.

 

(Vortrag auf der Jahrestagung des Deutschen Hochschulverbands in Berlin 1987 über das Thema „Universität ohne Kultur?“) 

 

Auf dieser Basis gelang Irma Dütsch der Absprung in die Kunst. Er ereignete sich im Waldhotel „Fletschorn“ auf 1800 m über Meer. Sie erinnert sich: Es war am ersten Tag. Sie brachte eine Tarte Tatin auf den Tisch. Und alle merkten: So muss es sein! So ist es gut!

 

In diesem Moment kamen zusammen: Die Sache. Das, was die Sache verlangt. Und die Begabung der Köchin, die Sache mit ihrer besonderen Signatur zu versehen.

 

Jeder, der schon einmal versucht hat, einen Blumenstrauss zu arrangieren, die Farben zu mischen und zu verschieben, hier ein wenig hinzuzufügen und dort etwas wegzunehmen, hat das seltsame Gefühl des Ausbalancierens von Formen und Farben erlebt, ohne genau sagen zu können, welche Art von Harmonie es ist, die er zu erreichen versuchte. Wir haben einfach das Gefühl, dass ein Fleckchen Rot hier den Unterschied ausmacht; oder dieses Blau ist für sich genommen in Ordnung, aber es „passt“ nicht zu den anderen; und plötzlich scheint ein kleiner Stengel grüner Blätter alles „richtig“ zu machen. „Nicht anfassen“, rufen wir, „jetzt ist es perfekt“. Nicht jeder, das gebe ich zu, ist so sorgfältig beim Blumenarrangement, aber fast jeder hat etwas, das er „richtig“ hinbekommen möchte. Es mag nur darum gehen, den richtigen Gürtel zu finden, der zu einem bestimmten Kleid passt, oder das richtige Verhältnis von Pudding und Sahne auf dem Teller. In jedem solchen Fall, wie trivial er auch sein mag, haben wir das Gefühl, dass eine Nuance zu viel oder zu wenig das Gleichgewicht stört und dass es nur ein Verhältnis gibt, das so ist, wie es sein sollte.

 

Menschen, die sich so um Blumen, Kleider oder Essen sorgen, nennen wir vielleicht pingelig, weil wir das Gefühl haben, dass diese Dinge nicht so viel Aufmerksamkeit rechtfertigen. Aber was im täglichen Leben manchmal eine schlechte Angewohnheit ist und deshalb oft unterdrückt oder verschwiegen wird, kommt im Bereich der Kunst zur Geltung. Wenn es darum geht, Formen zueinander zu bringen oder Farben zu arrangieren, muss ein Künstler immer „pingelig“ sein, oder besser gesagt: anspruchsvoll bis zum Äussersten. Er kann Unterschiede in Schattierungen und Texturen sehen, die wir kaum bemerken würden. Ausserdem ist seine Aufgabe unendlich viel komplexer als jede, die wir im normalen Leben erleben. Er muss nicht nur zwei oder drei Farben, Formen oder Geschmäcker ausbalancieren, sondern mit einer beliebigen Anzahl jonglieren. Er mag Qualen über dieses Problem erleiden. Aber wenn er es geschafft hat, haben wir alle das Gefühl, dass er etwas erreicht hat, dem nichts hinzuzufügen ist, etwas, das richtig ist – ein Beispiel von Vollkommenheit in unserer sehr unvollkommenen Welt.

 

Sir Ernest H. Gombrich: The Story of Art.

 

Irma Dütsch, Koch des Jahres 1994 und 2001, hat das Hotel „Fletschorn“ 2004 verkauft. Dreizehn Viertausender haben es umgeben. Wenn man sie von seiner Lage reden hört – und von ihrer Kochkunst –, kommt man ins Träumen.

 

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