Pierre Arnold: Präsident des Migros-Genossenschaftsbunds.

22. November 1921 – 25. März 2007.

 

Aufgenommen am 10. Mai 1984 in Feusisberg.

Pierre Arnold – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Vom mächtigen Migros-Mann, noch von Gottlieb Duttweiler zu seinem Nachfolger herangezogen, später Präsident der Gottlieb-und-Adele-Duttweiler-Stiftung, Verwaltungsrat von Swissair und SBB, Ehrenbürger von Ballaigues, Dr. h.c. der Universität Lausanne und Mitglied der französischen Ehrenlegion… von Pierre Arnold also zeigt das 1984 entstandene Filmporträt der „Pans Fixes“ vier Schichten: 1. Den grandseigneuralen Gestus des durchsetzungsfähigen Managers. 2. Den geschliffenen Auftritt des vernetzten Gesellschaftsmanns. 3. Die Offenheit des aufgeweckten Jungen. 4. Die Geradlinigkeit des auf sich gestellten Menschen. <

 

„Wirtschaftsleute und andere feine Leute haben als würdige Personen das Recht auf bestimmte ehrenvolle Plätze innerhalb von Räumen, oder sie greifen zu Strategien, um räumlich auf die hervorragende Bedeutung ihrer Person hinzuweisen.“ Der Wiener Soziologe Roland Girtler behauptet, dass „das gesamte menschliche kulturelle Handeln vorrangig durch den Drang nach Vornehmheit, nach Beifall bestimmt ist“.

 

Pierre Arnold sitzt vor einem wandfüllenden historischen Gobelin, einer kostbaren Antiquität, einem „objet d‘époque“. Sein Rand – und damit der Rest des Raums – liegt jenseits des Horizonts, den die Kamera zu erfassen vermag. Offensichtlich erfolgt die Begegnung mit dem obersten Migros-Mann in einem Haus von herrschaftlichen Dimensionen.

 

Für diese Vermutung spricht auch der Gesprächsbeginn: Interviewer Bertil Galland erwähnt einen Ritt, den er mit Pierre Arnold vor der Filmaufnahme am Vormittag machen durfte. Die beiden Männer sassen auf irischen Pferden, die zwischen Trott und Galopp noch einen besonderen Tritt hatten: drei Beine in der Luft, eines am Boden. Bertil Galland sah darin ein Symbol für Pierre Arnolds Managerfähigkeiten: Weite des Denkens, verbunden mit Bodenhaftung.

 

Auskunft über sich und sein Leben gibt Pierre Arnold hinter einem antiken, wohl französischen Schreibpult: Empire vielleicht, oder Louis XVI. Der Rand des Möbels liegt jenseits des Horizonts, den die Kamera zu erfassen vermag. Nahe der Pultkante findet sich die Statuette eine Raubkatze auf dem Sprung oder im Lauf, aber kein Telefon, keine Schreibunterlage, keine Tischagenda, keine Dossiers. Nur die nackte Fläche.

 

Wenn das Bild etwas über Pierre Arnolds Managerfähigkeiten sagt, dann handelt es sich bei ihm um einen „Clean desk man“, also um einen Menschen, der die Sachen nicht anbrennen lässt, sondern offensiv, ja sogar antizipierend anpackt. „Proaktiv“ nennt man das heute; zu Pierre Arnolds Zeiten war das Wort noch nicht im Schwang.

 

Hinter dem Pult, das bereits eine Barriere zum Interviewer darstellt, sitzt Pierre Arnold mit angewinkelten Ellbogen, die Hände ineinander verschränkt. „Barriere-Griff“ nennt das der Körpersprachler Desmond Morris:

 

Hinter einer Barriere fühlen sich die Menschen sicherer. Ist eine soziale Situation in irgendeiner Form bedrohlich, entsteht sofort das Bedürfnis, ein Hindernis zu errichten. Das wohl wichtigste Barriere-Signal für sitzende Menschen ist der Schreibtisch. Mancher Geschäftsmann würde sich ohne Schreibtisch geradezu nackt vorkommen; täglich verbirgt er sich dankbar hinter ihm und benutzt ihn wie einen riesigen, hölzernen Keuschheitsgürtel. Wenn er hinter dem Schreibtisch sitzt, fühlt er sich voll abgeschirmt von dem Besucher, der auf der anderen Seite offen und ungeschützt dasitzt.

 

Ausgerechnet die edle Audemars Piguet an Pierre Arnolds linkem Handgelenk verrät aber die Nervosität des Befragten. Da das Glas noch nicht entspiegelt ist, nimmt es das Licht des Aufnahmescheinwerfers auf und wirft es zuweilen als fahrigen Reflex über die Pultfläche. Bei einer Einstellung kommen am unteren Bildrand noch die Beine und Füsse des Befragten zum Vorschein. Sie sind in ständiger Bewegung. Desmond Morris: „Rastlose Haltungsänderungen der Beine deuten bei jemandem, der vorgibt, glücklich zu sein, auf einen blockierten Fluchtversuch hin.“

 

Das verrät die Sprache Pierre Arnolds unter dem Tisch. Über dem Tisch aber beweist der Migros-Mann durch flüssigen Satzbau seine zupackende Überlegenheit. Er ist um die Worte nicht verlegen. Er hat „drauf“, was er sagen will. Da, wo die Substanz dünn wird, bringt er Floskeln zum Einsatz, um die Stellen zu kaschieren. Diese Floskeln aber zeigen, und das ist bemerkenswert, einen Mann an, der „es mit allen kann“.

 

Die Linguisten wissen, dass sich die Zugehörigkeit zu einer Gruppe durch das Vokabular ausweist. Darin liegt, nebst anderem, die Funktion der Wissenschafts-, Manager-, Politiker- und Gaunersprachen. Weil die Art der Satzbildung, die Einflechtung von Fachausdrücken nur durch Training erworben werden kann, erkennen die Mitglieder einer Bande an der Redeweise, ob ein Sprechender zur Koterie gehört oder nicht. Aussenstehende verraten sich durch die mangelnde oder fehlerhafte Verwendung der sprachlichen Zeichen.

 

Die sprachlichen Zeichen nun, die Pierre Arnold verwendet, sind so allgemein, dass sich niemand ausgeschlossen fühlt. Damit zeigt der Migros-Mann seine Verwurzelung im Volk. Und durch sie steht er zu seiner Herkunft.

 

Angefangen hat er nämlich ganz unten. Nachdem seine Familie auseinandergebrochen und in die Armut geraten war, brachte er sich sieben Jahre lang als Knecht und Stallbursche durch, unter anderem auf dem Gut von > Oscar Forel. Da lernte er die Breite des menschlichen Lebens kennen. Denn er arbeitete im landwirtschaft­lichen Bereich einer psychiatrischen Klinik – zusammen mit den Patienten. Und weil es damals noch keine Psychopharmaka gab, musste er helfen, sie in Zwangsjacken zu stecken, wenn sie ausrasteten.

 

Von allen Seiten wurde ihm gesagt: „Du kannst doch nicht ein Leben lang Knecht bleiben. Du musst etwas aus dir machen!“ Das sah er selber ein. Das wollte er ja. Er legte Geld zum Studieren zurück. Doch als er das seinem ehemaligen Lehrer erklärte, nahm ihn der Mann beim Arm: „Jetzt gibst du mir die Aufgabe, dir zu erklären, dass du nicht studieren kannst. Du hast ja die nötigen Schulen gar nicht durchlaufen.“ Daraufhin beschloss Pierre Arnold, niemandem mehr sein Ziel zu verraten.

 

So entwickelte er schon als Bursche die Geradlinigkeit des auf sich gestellten Menschen. Er brachte sie mit ins Agronomie-Studium an der ETH Zürich, in die vielfältigen landwirtschaftlichen Organisationen, die er mit dreissig zu leiten begann, und in den Migros-Genossenschaft-Bund, wo er mit 38 Jahren das jüngste Mitglied der Verwaltungsdelegation wurde.

 

Mit dieser Geradlinigkeit spricht Pierre Arnold jetzt vor der Kamera der „Plans Fixes“ über sich, seine Arbeit und seinen Charakter. Hinter der Barriere gibt er sich in seiner ganzen Vielschichtigkeit preis. Kein Wunder, möchte er flüchten. Aber er steht – zu sich.

 

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