Laurent Sciboz und Nicolas Tièche: Fribourg Challenge. Weltmeister, durch die Lüfte getragen.

18. Mai 1967 – / 11. Dezember 1967 –

 

Aufgenommen am 16. Januar 2020 in Sommentier.

Laurent Sciboz et Nicolas Tièche – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Um 1950 hiess es bei der BBC, der damals massgebenden Rundfunkanstalt (nach ihrem Modell zimmerten die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg die öffentlich-rechtlichen Gebilde der ARD): „Wir überschätzen den Kenntnisstand des Publikums und unterschätzen sein Urteilsvermögen.“ Anders gesagt: Situationen erklären und Fakten liefern ist eine wichtige journalistische Aufgabe. Wer sie vernachlässigt, bringt das Publikum ins Schwimmen. Das zeigt sich auch am Film der „Plans Fixes“ über die Ballonfahrer Laurent Sciboz und Nicolas Tièche. <

 

Die Ballonfahrer kamen im selben Jahr zur Welt: 1967; wobei der jüngere (Nicolas Tièche, geboren am 11. Dezember) mit seiner langen Erfahrung dem älteren (Laurent Sciboz, geboren am 18. Mai) die – wie soll man sagen: Kunst, Wissenschaft, Technik oder Praxis? – kurz: den Kniff des motorlosen Schwebens über der Erde beibrachte. Heute sind sie gleichauf. Sie wechseln sich im Kommando ab. Weil sie gleich ticken, wird das, was der eine beim Flug anordnet, vom andern nicht diskutiert, sondern ausgeführt.

 

Nicolas Tièche verrät das Geheimnis: „Die beiden im Korb müssen in Bezug auf das Risiko die gleiche Auffassung haben. Es gibt welche, die sagen: ‚Null Risiko!‘ Das ist okay. Andere sagen: ‚Wir wagen alles!‘ Das ist auch okay. Wichtig aber ist, dass beide die Grenze des Risikos am selben Ort wahrnehmen. Wir selbst sind mutig, aber nicht tollkühn.“

 

Mit dieser Haltung wurden Nicolas Tièche und Laurent Sciboz 2017 Weltmeister im Weitflug. Sie starteten im US-Bundesstaat New Mexico und landeten in der Gegend von Labrador City in der kanadischen Provinz Neufundland. Dabei legten sie 3666 Kilometer zurück. Der Flug dauerte 2 Tage und 12 Stunden. Tièche: „Es wird noch eine Weile gehen, bis dieser Rekord geknackt wird.“

 

Zwei Jahre später wurden sie auch Weltmeister beim traditionsreichen Gordon Bennett-Cup, geschaffen 1906 vom gleichnamigen Herausgeber der „Herald Tribune“ in Paris. Sieger wird, wer am weitesten kommt. Laurent Sciboz und Nicolas Tièche landeten am 17. September 2019 nach einem Flug von 1774 Kilometern am frühen Morgen im Donaudelta.

 

Das Donaudelta ist ein letztes grosses Geschenk, das die „schöne blaue Donau“ dem Festland darbringt, bevor sie ihre Fluten mit dem Schwarzen Meer vereinigt. Hier geben sich etwa 300 Vogelarten aus Asien, Afrika und Europa ein Stelldichein. Das Gebiet ist eine grosse Zufluchtsstätte für sie. Im Delta nisten seltene Vogelarten, die zum Teil vom Aussterben bedroht sind: Pelikan, Stelzenläufer, Säbelschnäbler usw. Auch das Jagdwild ist gut vertreten, und zwar durch: Wildschwein, Fischotter, Nerz, Hermelin usw. Bei den Fischen ist ebenfalls ein Artenreichtum festzustellen; zu den wertvollsten gehören Karpfen, Zander, Wels, Rotfeder sowie Hausen, Waxdick, Sternhausen u. a. Von den 2900 Quadratkilometern, die mit Schilf und assoziierten Pflanzen bedeckt sind, bilden etwa 250 Quadratkilometer die Zonen der sogenannten Plauri, schwimmenden Schilfrohrinseln, die sich mit dem allgemeinen Wasserstand im Delta heben und senken.

 

(Eugen Panighiant)

 

Um das Donaudelta mit dem Ballon zu erreichen, waren Laurent Sciboz und Nicolas Tièche 3 Tage und 10 Stunden in der Luft (anders gesagt: 82 Stunden und 3 Minuten). Ihre Durchschnittsgeschwindigkeit betrug 21,6 km/h; das entspricht der Kursgeschwindigkeit eines Genferseedampfers. „Jetzt bleibt noch der Rekord für die längste Aufenthaltsdauer in der Luft zu knacken“, stellt Laurent Sciboz lächelnd fest. Nicolas Tièche nickt zurückhaltend, lächelt aber ebenfalls.

 

Wer mit dem Ballon unterwegs ist, bewegt sich, vom Wind vorangebracht, in völliger Stille. „Man muss sich etwas zu sagen haben“, erklärt Nicolas Tièche, „sonst wird die Zeit lang.“ In dieser Hinsicht haben die beiden miteinander Glück:

 

Ihre Gespräche wurden vertrau­lich, da sie einander gleich waren. Die Nächte, welche sie oft zusammen durchwachen mussten, machten ihre Freundschaft noch inniger. Hier entdeckten sie sich die innersten Gedanken ihrer Seele; hier brachten sie die seligsten Stunden zu.

 

(Karl Philipp Moritz)

 

Die beiden Ballonfahrer sprechen mit künstlerischer Empfänglichkeit von den Erlebnissen zwischen Himmel und Erde, und man versteht, warum am Anfang des 19. Jahrhunderts das Luftschiff die Poeten faszinierte. Im ersten Aufsatz der „Studien (Seiner Mutter und seinen Geschwistern widmet diese ersten Versuche der Verfasser)“ schrieb der 35-jährige Adalbert Stifter unter dem Titel „Condor“ 1840 über einen Ballonflug:

 

„Nun lasst in Gottes Namen den braven Condor fliegen – löst die Taue!“ Es geschah, und von den tausend unsichtbaren Armen der Luft gefasst und gedrängt, erzitterte der Riesenbau der Kugel, und schwankte eine Sekunde – dann sachte aufsteigend zog er das Schiffchen los vom mütterlichen Grunde der Erde, und mit jedem Atemzuge an Schnelligkeit gewinnend, schoss er endlich pfeilschnell, senkrecht in den Morgenstrom des Lichts empor, und im Momente flogen auch auf seine Wölbung und in das Tauwerk die Flammen der Morgensonne; wie glühende Stäbe schnitten sich die Linien der Schnüre aus dem indigoblauen Himmel, und seine Rundung flammte wie eine riesenhafte Sonne. Die zurücktretende Erde war noch ganz schwarz und unentwirrbar, in Finsternis verrinnend. Weit im Westen auf einer Nebelbank lag der erblassende Mond. So schwebten sie höher und höher, immer mehr und mehr an Rundsicht gewinnend. Die Erhabenheit begann nun allgemach ihre Pergamente auseinanderzurollen – und der Begriff des Raumes fing an, mit seiner Urgewalt zu wirken.

 

Neben der Poesie des Fliegens gibt es aber auch die Prosa der Verhältnisse. Und dazu bleibt der Film der „Plans Fixes“ weitgehend stumm. An dieser Stelle kommt die BBC ins Spiel: „Wir überschätzen den Kenntnisstand des Publikums.“ Eine Vielzahl von Fragen, die sich dem Betrachter aufdrängen, bleibt ungestellt (und damit auch unbeantwortet), weil sie, möglicherweise, dem Fachmann zu banal sind oder weil er müde ist, sie den Laien immer und immer wieder zu erklären. Trotzdem. Wenn gesagt wird, im Korb habe es weniger als einen Quadratmeter Platz („die Hälfte dieses Tischs“):

 

– Was essen und trinken die Ballonfahrer auf ihren mehrtägigen Flügen?

– Wie nehmen sie die sogenannten natürlichen Geschäfte vor?

– Was geschieht mit den Fäkalien?

– In welcher Stellung schlafen sie?

– Wie beugen sie der Thrombenbildung vor?

 

Ein Team von zwanzig Freiwilligen begleitet vom Boden aus die Flüge von Laurent Sciboz und Nicolas Tièche:

 

– Was haben die einzelnen für Funktionen?

– Sind die Ehefrauen beteiligt? In welcher Rolle?

– Was sagen die Kinder zum Sport der Väter?

 

Schliesslich stellen sich Fragen zur Infrastruktur:

 

– Was kostet ein Ballon?

– Wird er fertig gekauft?

– Dürfen die Fahrer bei einem Wettbewerb Änderungen am Ballon vornehmen?

– Wie kommt das Gas (im konkreten Fall Wasserstoff) in den Ballon?

– Wo und wie wird der Ballon nach dem Flug aufbewahrt?

– Welche Verbesserungen streben Tièche und Sciboz noch für das Gefährt und die Flugtechnik an?

 

Dazu bleiben die „Plans Fixes“ stumm. Wer sich für diese Fragen interessiert, kann aber möglicherweise in fünf Tagen aus berufenem Mund auf das eine oder andere Antwort erhalten.

 

Am kommenden Freitag, 2. September 2022 werden abends um 21 Uhr – gutes Wetter vorausgesetzt – von St. Gallen aus 19 Gasballone für die „65th Coupe Aéronautique Gordon Bennett“ in die Luft steigen. Laurent Sciboz und Nicolas Tièche werden sich mit „Fribourg-Freiburg Challenge“, registriert unter HB-QRV, am Wettbewerb beteiligen.

 

Wir verraten nicht, für welches Team unser Herz schlägt …

 

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