Claude Berney: Sozialistischer Kämpfer

8. Juli 1913 – 14. Juni 1998.

 

Aufgenommen am 10. März 1989 in Le Pont.

Claude Berney – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Kaum hatte Claude Berney das Maurerhandwerk gelernt, musste er es schon aufgeben. Die Behandlung seiner Lungentuberkulose machte einen 15 monatigen Kuraufenthalt in der Militärklinik von Montana VS nötig (und später noch 7 Monate in der Militärklinik von Monaggio TI). Im Wallis verliebte er sich in eine junge, adrette, freundliche Krankenschwester. „Ich war so naiv!“, erzählt er. „Als wir einmal im Aufenthaltsraum beisammen waren, wusste ich ihr nichts anderes zu sagen als: ‚Wollen Sie meine Frau werden?‘ Doch sie antwortete: ‚Ja‘ und wurde das Glück meines Lebens.“ <

 

Bei vielen Persönlichkeiten der Westschweiz nährt sich die französische Wikipedia, natürlich ohne Quellenangabe, von dem, was die Leute in den „Plans Fixes“ über sich sagten. Bei Claude Berney ist der Eintrag, entstanden 2011, natürlich ohne Quellenangabe, sogar gleichlautend mit der Beschreibung, die das Filmpantheon 1989 über ihn verfasst hat:

 

In der Vallée de Joux in eine Familie von Uhrmachern und Bauern hineingeboren, wurde der junge Claude Berney durch die Wirtschafts­krise von 1929 vertrieben und ging nach Lausanne, wo er eine Maurerlehre absolvierte. Angesichts einer schwierigen Situation, die vom Gespenst der Arbeitslosigkeit und des Aufstiegs des Faschismus geprägt war, wurde er nach und nach für die Ideen des Sozialismus gewonnen, ausgedrückt von einem Jean Jaurès, einem Léon Blum und, näher bei ihm, einem Paul Golay. Als begeisterter Leser und Liebhaber von Philosophie und Geschichte nahm er am politischen Leben teil. Zahlreiche Artikel und zwei Bücher erschienen aus der Feder dieses beispielhaften Arbeiters, der bescheiden und offen für andere war, skeptisch und gleichzeitig überzeugt von der notwendigen Brüderlichkeit zwischen den Menschen und der Teilnahme am sozialen Kampf.

 

Für Wikipedia ist bloss noch der Satz dazugekommen:

 

Da er die Teilnahme am öffentlichen Leben als Pflicht betrachtete, trat er der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz bei und gehörte 16 Jahre lang dem Grossen Rat des Kantons Waadt an (dem er 1979 und 1980 vorstand).

 

Et ça y est.

 

Nun aber liegt der Teufel – wie auch die Würze – im Detail. Darum bietet die Begegnung im Film mehr, als es jede noch so wohlgemeinte Beschreibung vermag. Claude Berneys Bescheidenheit, die seine Persönlichkeit prägte, hat viele Facetten. Sie äussert sich zunächst in einem skeptischen, leicht gequälten, um Entschuldigung bittenden und gleichzeitig verzeihenden Lächeln. Dann im Wiegen des Kopfs. Es zeigt an, dass er überrechnet, welche Formulierung er wählen soll. Gleichzeitig schwingt in in seinen Worten Ungesagtes mit, das er den Aussenstehenden verschweigt. Wieder aus Bescheidenheit: „Mach dich nicht wichtig!“ (Ne fais pas l’important !) Diese Maxime wurde den Leuten aus der Unterschicht von Kindesbeinen an eingetrichtert, und Claude Berney hat sie dermassen internalisiert, dass sie zu einem Bestandteil seines Charakters wurde.

 

Durch kritisches Selbsturteil schafft der erzählende Claude Berney jetzt Distanz zum erzählten Ich. Immer wieder sagt er: „Ich war so naiv!“ oder: „Ich wusste ja nichts!“ Die Haltung ist begründet in der frommen Gewissenserforschung, wie sie sich bei Pietismus und Katholizismus ausgebildet hat. Und im Hochtal der Vallée de Joux, wo exakte Arbeiter für Audemars-Piguet und Jaeger-LeCoultre feine Uhrwerke zusammensetzten, war man besonders fromm.

 

Claude Berney wuchs in jenem Ortsteil des Dorfes Bioux auf, in dem die Angehörigen der Brüderbewegung lebten (im Volksmund: Darbysten). Den Gottesdienst nannten sie „Versammlung“ (assemblée), und die Zusammen­kunft wurde nicht von einem Pfarrer geleitet, sondern von einem Bruder, also von einem Mitglied, das unversehens den göttlichen Auftrag vernommen hatte, die Gläubigen zum Gebet oder zur Verkündigung des Evangeliums zu führen. Im Unterschied zu den „Weltleuten“ war dabei nicht Selbstentfaltung gefragt, sondern Gehorsam und Brüderlichkeit.

 

Über das Wesen der Konformität hat Karl Viktor von Bonstetten in seinen 1821 erschienenen „Studien über den Menschen“ nachgedacht:

 

Wir lieben es, wenn unsere Gefühle mit den Gefühlen anderer übereinstimmen. Ehrgeiz, Liebe, Schmeichelei, Eitelkeit, sogar Geiz als Mittel der Eitelkeit und Macht, alle diese Leidenschaften hängen von dem Bedürfnis nach gleichartigen Gefühlen ab. Die Gleichartigkeit wird durch den Erfolg belebt; ihre Kraft scheint mit der Masse und der Geschwindigkeit zu wachsen. Wir wollen der grössten Zahl gefallen, und je schneller unsere Erfolge sind, desto mehr entzündet sich das Gefühl. Auch beim Glück gibt es eine Beschleunigung. Wir sehen nämlich, dass mit der Entwicklung von Ideen und Gefühlen in der Gesellschaft auch die Chance auf harmonische Gefühle steigt, da sich Ideen und Gefühle durch Bewegung vervielfältigen und so die Wahrscheinlichkeit der Harmonie erhöhen, aus der sich das Glück des Menschen zusammen­setzt.

 

Dermassen erzogen, liess sich der 16-jährige Claude Berney nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise widerspruchslos, wenn auch zutiefst unglücklich, nach Lausanne schicken, um bei einem Gartenunternehmer sein Glück als Handlanger zu versuchen. Doch war er so ungeschickt, dass er nach kurzer Zeit entlassen wurde. Durch einen Freund wurde er an eine Baustelle vermittelt. Und da wurde er durch einen weiteren Freund veranlasst, sich um eine Maurerlehre zu bewerben: „Du willst doch nicht ewig Handlanger bleiben!“ Wurde – wurde – wurde. Noch im 19. Jahrhundert nannte man das Passiv auf Deutsch „Leideform“ – im Unterschied zur „Tätigkeitsform“ (Aktiv).

 

Nachdem Claude Berney krank und dann in langen Kuraufenthalten geheilt worden war, arbeitete er, inzwischen verheiratet, in der Vallée de Joux 23 Jahre lang in einer Spielzeugwerkstatt. Während dieser Zeit erzog die Frau neben den fünf eigenen noch vierzig weitere Kinder. Das Paar empfand die Betreuung der kleinen Wesen als soziale Aufgabe.

 

Doch die starre Glaubensauffassung der Brüderbewegung brachte Claude Berney mit der Zeit dazu, sich umzuschauen und weiterzubilden. Er erwarb die 150 Hefte der Schriftenreihe „Le Dieu des philosophes et des savants“ und die ehrfurchtgebiete „Encyclopédie du catholique au XXe siècle“ mit ihren 142 Bänden. Am Ende seines Selbststudiums verliess er die Brüderbewegung und wandte sich der reformierten Landeskirche zu.

 

Unverzüglich wurde er von einem befreundeten Arbeiter eingeladen, den Sozialdemokraten beizutreten und sich für die Wahl in den Gemeinderat des Dorfs Le Chenit zur Verfügung zu stellen. Er wurde gewählt. Später auch ins Waadtländer Kantonsparlament. Dort wurde er mit 66 Jahren auch Präsident. Wurde – wurde – wurde. Leideform.

 

Doch dann begann er zu schreiben. Die französische Wikipedia nennt ihn sogar „écrivain suisse“. 1984, Claude Berney war 71, erschien sein Hauptwerk: „Die große Komplikation. Memorial. Von den Höhen des Juras zu den Pflastersteinen der Stadt (ein beruflicher, kultureller und politischer Werdegang)“ (La grande complication. Mémorial. Des hauteurs du Jura aux pavés de Ville [un itinéraire professionnel, culturel et politique]). Gestern bot das „Zentral­verzeichnis antiquarischer Bücher ZVAB“ zwei Exemplare zum Kauf an. Heute nur noch eins. Das Exemplar mit der handschriftlichen Widmung des Autors ging weg, zusammen mit dem einzigen Heft seiner „Souvenirs d’atelier“ …

 

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