Marie-Thérèse Burrin-Tercier: Gestohlene Kindheit, zerstörtes Leben.

21. Mai 1940 –

 

Aufgenommen am 15. September 2014 in Vevey.

Marie-Thérèse Burrin-Tercier – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Marie-Thérèse Burrin-Tercier hat den Familiennamen des letzten Mannes behalten, auch wenn sie mit ihm keine glückliche Ehe hatte. Sie hebt resigniert die Achsel. Obwohl sie das Alleinsein nicht anstrebte, erwies es sich als das Bekömmlichste. Zusammengezählt hat sie nur von zwei, drei Menschen Zuwendung und Zärtlichkeit erfahren. Aus diesem Grund ist jetzt ihr Porträt eines der schwärzesten und traurigsten in der Sammlung der „Plans Fixes“. <

 

Mit beengter Brust beginnt Marie-Thérèse Burrin im Staccato-Stil die Erzählung ihrer Kindheit. Bald wird klar: Da quillt etwas Übermächtiges auf. Es ist das zermalmende Schicksal – einem schwer misshandelten Heim- und Verdingkind angetan von der Kirche und den Behörden, angetan von sogenannten barmherzigen Schwestern, bäuerlichen Brotherren und sogenannten liebenden Ehemännern.

 

Obwohl Marie-Thérèse Burrin-Tercier mit sechzig ein Buch verfasste, „damit man es weiss“, und obwohl sie danach vor Medien und Schulklassen immer wieder Zeugnis über ihre unglückliche Lebensbahn ablegte, ist das Übermächtige kaum bewältigt; nur mit Mühe zurückgehalten; sobald sie daran rührt, bricht es wieder auf; reisst sie mit; bringt sie zum Aufschluchzen; und dann zum Verstummen. Derweil verharrt das Objektiv der Kamera kalt und unbewegt auf dem tränennassen Gesicht.

 

Das Unglück beginnt 1943 mit dem Tod der Mutter. Marie-Thérèse ist dreieinhalb Jahre alt, der Bruder zweieinhalb. Die Geschwister kommen weg, in ein Heim für Waisenkinder. Es wird geführt von Ordensschwestern im Freiburger Hinterland. Die Verfügung trafen der Gemeindepräsident und der Priester. Ihnen waren die Grosseltern, welche die beiden Halbwaisen wohl hätten betreuen könnten, nicht katholisch genug.

 

Die Liebe führt jetzt die Grossmutter jeden Sonntag an die Schwelle des Waisenhauses. Betreten darf sie es nicht. Der böse Geist, sagen die Schwestern, müsse draussen bleiben. Immerhin können sich das Mädchen und der Bub zu ihr auf die Treppe setzen. „Grossmama, was machen die Halme auf deinem Kleid?“ „Ich habe in einer Scheune übernachtet.“ „Warum?“ „Der Weg ist zu lang. Er dauert einen Tag.“ Für den Zug reichte das Geld nicht. Gleichwohl kommt die Grossmutter am folgenden Sonntag wieder. Und auch am nächsten und übernächsten. Die Kinder freuen sich auf ihre Besuche. Doch plötzlich bleiben sie aus.

 

Mit acht Jahren vernimmt Marie-Thérèse, dass die Grossmutter damals gestorben sei. Dass sie einem Mord zum Opfer gefallen ist, verschweigt man ihr. Das Leben ist ohnehin schon schwer genug. Die Schwestern sind ausgelastet mit der Betreuung alter Demenzpatienten. Deshalb fesseln sie die Kinder tagsüber an Händen und Füssen – die Füsse an den Tischbeinen –, damit sie ruhig sind und nicht davonlaufen. Wenn sie sich ungebührlich verhalten, kommen sie in den Karzer (le cachot), ein unbeleuchtetes Kellerloch mit festgestampfter Erde, herumhuschenden Mäusen und kalten Kartoffelsäcken, auf denen sich die Mädchen niederlegen. Um bestraft zu werden, genügt es, Widersetzlichkeit gezeigt oder ein „wüstes Wort“ gesagt zu haben. Oft werden die Büsserinnen vergessen. Dann erkundigt sich am nächsten Tag die Schule nach ihrem Verbleib, und jemand schaut im Karzer nach. Konsequenzen haben diese Erziehungspraktiken nicht. Die Schule wird nämlich ebenfalls von Ordensschwestern geführt.

 

Wenn Marie-Thérèse befreit wird, hat sie ein schwarzes Gesicht und nasse Unterhosen. Die alte Küchenaushilfe, die den Aufenthalt im Heim mit Arbeit abverdient, zeigt Erbarmen: „Komm, du arme Kleine!“ Mit dem feuchten Abwaschtuch wischt sie ihr das Gesicht sauber. „Und jetzt schneuz darein! Die Hosen kannst du mir geben. Ich werde sie waschen und zum Trocknen übers Ofenrohr legen. Geh heute ohne sie zur Schule!“ Die elementare Zuwendung der Frau verhindert, dass das Kind zerbricht: „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.“ (Ps. 23, 4) So wenig braucht es, um am Leben zu bleiben, trotz Missbrauch und Schändung. Wenn Marie-Thérèse zum nahegelegenen Bauern kommt, muss sie – die Erwachsene kann es fast nicht aussprechen – „Fellatio“ mit ihm treiben. „Wehe, du sagst ein Wort!“, droht der Bauer. Und das Kind schweigt.

 

Dann kommt eines Tages ein Mann, sagt, er sei der Vater, und führt die Geschwister in seine Familie. Sie wohnt in einem einsamen Haus an der Talflanke. Die Stiefmutter hat drei Kinder in die Ehe gebracht. Mit dem Mann verkehrt sie nicht mehr. Unten im Tal hat sie einen Geliebten. Marie-Thérèse muss ihr helfen, aus einem Leintuch Bandagen zu machen, und am nächsten Tag muss sie sich nackt aufs Bett legen. Dann wird sie mit den Tuchstreifen so gefesselt, dass sie sich nicht mehr regen kann: „An den Beinen bis aufs Blut.“ Unversehens tritt der Vater ein. Er ist nackt und wirft sich mit erigiertem Glied auf das Kind. Der 74-jährigen Frau erstickt die Rede. Derweil filmt das Objektiv der Kamera kalt und bewegungslos das tränennasse Gesicht.

 

Marie-Thérèse wendet sich in ihrer Not an die Mutter Gottes. Eine Novene (eine Andachtsübung von neun Tagen) soll Hilfe bringen:

 

Novene zu Maria, welche unsere Knoten löst.

 

Erster Tag

Mach das Zeichen des Kreuzes.

Neunter Tag

Heiligste Mutter, unsere Fürsprecherin, du Löserin von Knoten, ich komme heute zu dir, um dir zu danken, dass du diesen Knoten ....................... in meinem Leben löst. Du kennst den Schmerz, den er mir bereitet. Danke, o Mutter, dass du in deiner Barmherzigkeit die Tränen aus meinen Augen trocknest. Danke, dass du mich in deine Arme nimmst und mir erlaubst, eine weitere Gnade von Gott zu empfangen.

 

Marie-Thérèse weiss, dass sie erlöst ist. Als der Vater am Abend das Haus verlässt, um einen Freund zu besuchen, sagt sie zu ihm: „Umarme deine Kinder! Du wirst sie nie mehr sehen!“ Der Mann folgt ihr, nimmt Abschied und kehrt nicht wieder. Nach einem Saufgelage ist er vom Weg abgekommen und zu Tode gestürzt.

 

Maria, die du die Knoten löst, o meine geliebte Mutter, ich danke dir, dass du den Knoten in meinem Leben gelöst hast. Umhülle mich mit deinem Mantel der Liebe, bewahre mich unter deinem Schutz, erleuchte mich mit deinem Frieden.

 

Die Zwölfjährige kommt ins Waisenhaus zurück und wird zur Begrüssung gleich in den Karzer gesteckt. So geht das alte Leben weiter, bis Marie-Thérèse, um „endlich ihr Brot zu verdienen“, an einen Bauern verdingt wird. Sie arbeitet von früh bis spät. Pro Monat bekommt sie einen Nachmittag frei. Da sie niemanden kennt, an den sie sich wenden kann, sucht sie jeweils das Waisenhaus auf, wo ihre einzige Freundin lebt, die liebe alte Küchenhilfe. So wenig braucht’s, um am Leben zu bleiben.

 

Mit 18 Jahren kommt Marie-Thérèse auf den Gedanken: „Wenn ich heirate, bin ich erlöst!“ Doch sie entscheidet sich für den Falschen. Der junge Mann, Vater ihrer beiden Töchter, ist ein Säufer. Aus Rache wirft der abgewiesene Mitbewerber einen Fluch auf sie. Zuerst nachts, dann auch nachmittags, beginnt es, in der Wohnung zu spuken. Die Nachbarn vom oberen Stock beschweren sich über den Lärm. Marie-Thérèse lädt sie ein dazubleiben, und jetzt bekommen sie das Geschehen selber mit. Sie dringen auf Abhilfe. Doch der Priester sagt: „Das übersteigt mein Vermögen. Sie müssen zu den Kapuzinern!“ Die frommen Brüder geben der jungen Frau verschiedene Säckchen mit einem Pulver mit. Die soll sie bei sich unters Kopfkissen legen und bei den Kindern unter die Matratze. Was das für ein Pulver ist? Die Nachbarin weiss Bescheid: „Das sind Reliquien! Heiliger Stoff!“ In der Tat: Der Spuk nimmt ab. Eines Tages ist er ganz weg.

 

Doch jetzt erlebt Marie-Thérèse Unsegen um Unsegen mit ihren Gatten, bis sie am Schluss resigniert. Obwohl sie es nicht suchte, ist das Alleinsein für sie am bekömmlichsten. Man muss die richtige Einstellung zu allem finden: „Vom Menschen und nur von ihm ist es abhängig, ob sein Leiden Sinn hat oder nicht“, sagt der Psychiater und KZ-Überlebende Viktor E. Frankl, Begründer der Logotherapie (Heilung durch Sinnfindung).

 

Gewiss: die Last ist schwer; es ist schwierig, sich zu ihr zu bekennen, Ja zu sagen zu ihr und zum Leben. Aber es hat Menschen gegeben, die allen Schwierigkeiten zum Trotz dieses Ja gesagt haben. Und wenn die Häftlinge vom Konzentrationslager Buchenwald in ihrem Lied gesungen haben: „Wir wollen trotzdem Ja zum Leben sagen“, dann haben sie es nicht nur gesungen, sondern vielfach auch geleistet; und sie haben es geleistet unter unsäglichen Bedingungen.

 

Gewiss, unser Leben als biologisches, das Leibliche, ist seiner Natur nach vergänglich. Nichts bleibt von ihm – und doch: wie viel! Was von ihm bleibt, was von uns übrig bleiben wird – was uns überdauern kann, das ist das in unserem Dasein Verwirklichte, das über uns hinaus und über uns hinweg Nachwirkende. Was wir „ausstrahlen“ in die Welt, die „Wellen“, die von unserem Sein ausgehen – das ist es, was von uns bleiben wird, wenn unser Sein selbst längst dahingegangen ist.

 

Aus den beiden Töchtern von Marie-Thérèse Burrin-Tercier hat es Gefreutes gegeben. Sie praktizieren einen Lehrberuf und sind glücklich.

 

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