Béatrice Deslarzes: Ärztin, Musikerin und Mäzenin. Immer rebellisch.

13. Juli 1937 – 27. Januar 2022.

 

Aufgenommen am 17. Dezember 2013 in Vessy.

Béatrice Deslarzes – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> In der Jugend entschied sich Béatrice Deslarzes zur Rebellion. Kraftvoll kämpfte sie gegen den Zwang, den der Vater und die frommen, aber bösen Schwestern in der Klosterschule auf sie ausübten. Die Wirkung der Auflehnung hielt ein Leben lang an: Noch mit 74 Jahren ist Béatrice Deslarzes offen, direkt und greifbar wie ein mutiges, aufgewecktes Kind. Wovon sie auch immer spricht: Blabla kommt nicht über ihre Lippen. <

 

„Widerlich, das Geschäft, das die Medizin mit den Alten macht!“, schimpfte der 84-jährige emeritierte Medizinprofessor. „Man sollte abtreten müssen. Leben heisst schöpferisch sein. Wenn man das nicht mehr sein kann, hat das Leben keinen Zweck mehr.“ Fünf Jahre später kürzte er das Krebsleiden mit Hilfe von Exit ab: „Ich will gehen, bevor die Metastasen das Hirn erreichen.“ Er legte das Todesdatum fest, organisierte den Abschied, nahm das Mittel und starb in Würde und im Frack.

 

Auch Béatrice Deslarzes brauchte Exit, um das Leben zu verlassen. Bevor sie die Organisation in Anspruch nahm, hatte sie ihr vierzig Jahre lang gedient: als Vertrauensärztin und als Vizepräsidentin. Schon in den ersten Assistenz­jahren im Spital hatte sie das „Acharnement thérapeutique“ (die Lebensverlän­gerung um jeden Preis) angewidert.

 

Man müsse nicht um jeden Preis alt werden wollen, erklärt sie nun zehn Jahre vor ihrem Ableben im Film. Sie selber habe, ehrlich gesagt, mit dem Alter Mühe. Nur noch einen Tag nach dem andern zu absolvieren, ohne schöpfe­risch sein zu können, sei ihr eine fürchterliche Vorstellung. Darum widerstehe ihr auch das „Acharnement palliatif“ (die Pflege um jeden Preis). Das wecke ihren Rebellionsgeist.

 

Die Todesangst der westlichen Medizin, welche dazu führt, dass sie die Menschen nicht gehen lassen kann, wenn es Zeit für sie ist, hat auch den Arzt > François Choffat zum Nachdenken gebracht. Er erkannte: Das Problem liegt im materialistischen Verständnis der Existenz. Dann erscheint der Mensch als Maschine, und logischerweise liegt der Zweck der Medizin jetzt darin, die Maschine so lange als möglich in Betrieb zu halten, gegebenenfalls durch Auswechslung von Einzelteilen. So werden Titangebilde, Chips und Batterien „in die Körper von Kadavern“ (Choffat) eingepflanzt, um ihren Tod so lange als möglich hinauszuschieben.

 

Angesichts dieses Elends wandte sich Béatrice Deslarzes resolut den Jungen, Schöpferischen, Kräftigen zu. Zusammen mit ihrem Ehemann, dem Arzt Pierre Schaefer, gründete sie 2003 die „Fondation Bea pour jeunes artistes“. Die Stiftung unterstützt Kreative unter dreissig Jahren aus der Westschweiz in den Bereichen Gegenwartsmusik, bildnerische Kunst (arts visuels), Performance und neue Medien.

 

Sich selbst hat Béatrice Deslarzes der Musik verschrieben. Beim Besuch der „Plans Fixes“ erzählt die 74-Jährige, sie sei eben daran, Perkussion zu lernen, um ihre Kompositionen zu vervollständigen. In ihnen bringt sie Text, Gesang, Computerklang und Rhythmus zusammen. Die Alben lädt sie auf YouTube hoch, zum Beispiel „Rebellin. Bea die Mami des Electro“ (Rebelle. Bea la mamie de l‘electro) mit den Titeln „Frei und verrückt“ (Libre et fou), „Hymne an die Huren“ (Hymne aux putains), „Gott“ (Dieu), „Rap der Alten“ (Rap des vieux), „Gewitter“ (Orage).

 

Mit ihrer direkten Art fand Béatrice Deslarzes auch den Draht zu den Insassen von Champ-Dollon. Zwanzig Jahre arbeitete sie dort als Zuchthausärztin. Bei den Behandlungen verlangte sie, dass den Gefangenen die Handschellen abgenommen wurden und dass die Wächter den Raum verliessen. Um den Patienten zu zeigen, dass sie keine Angst habe, wandte sie ihnen den Rücken zu und bereitete an einem Wandtischchen das Material für die Untersuchung vor. „Nie geschah das Geringste“, erzählt sie. „Die Männer waren lieb und respektvoll. Sie spürten, dass uns das Rebellische verband.“

 

Dann kamen Alter und Krankheit. In einem der letzten Slams, zwei Jahre vor ihrem Freitod, sang Béatrice Deslarzes im „Chat Noir“ von Carouge:

 

On n’a vraiment plus d’avenir

C’est le moment de tout quitter...

 

(Jetzt wirklich ohne Zukunft

Ist es der Moment, alles zu verlassen … )

 

„Alle die“, sagte Sokrates, „welche sich mit der Philosophie richtig befassen, beschäftigen sich offenbar, ohne dass die anderen es merken, eigentlich mit nichts anderem als mit dem Sterben und den Totsein. Nun will ich euch Rechenschaft darüber ablegen, dass – wie mir scheint – ein Mensch, der sein Leben wirklich im Streben nach der Weisheit verbracht hat, mit Recht guten Mutes in den Tod gehen soll und hoffen darf, er werde nach seinem Tode in jener Welt der höchsten Güter teilhaft. Wenn das, was ich behaupte, zutrifft, dann ist es ein sehr schöner Glaube; wenn aber nach dem Tode alles zuende ist, dann falle ich wenigstens in diesen letzten Stunden vor dem Tode den Anwesenden weniger lästig durch meine Klagen. Die Unsicherheit wird ja auch nicht lange dauern (denn das wäre schlimm), sondern sie wird bald vergehen. Ihr aber, wenn ihr mir Folge leisten wollt, kümmert euch weniger um Sokrates als vielmehr um die Wahrheit.“

 

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