Jacques Dubochet: Nobelpreisträger. „Danke, ihr Jungen!“

8. Juni 1942 –

 

Aufgenommen am 26. Oktober 2020 in Morges.

Jacques Dubochet – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Bis zum Ende des Gesprächs bleibt der Eindruck bestehen, dass der 78-jährige Nobelpreisträger Jacques Dubochet mit Daniel Düsentrieb verwandt ist. Die Angehörigen dieser Wissenschaftsfamilie haben gemeinsam die sympathische Ausstrahlung von Heiterkeit, seelischer Unschuld, tief verwurzelter Eigenständigkeit – und das Vermögen, dort Lösungen zu sehen, wo sie andere nicht mehr suchen. <

 

Als Jacques Dubochet an der Universität Lausanne 1998 die Leitung des Studiengangs Biologie übernahm, setzte er sich dafür ein, dass das Fach „Biologie und Gesellschaft“ geschaffen werde. Die angehenden Wissenschafter sollten erkennen, welche Verantwortung sie mit ihrem Wirken auf sich nahmen. „Letztlich ging es um die Frage nach dem richtigen Leben“, erklärt der Professor. „Dafür gibt es keine Theorie, nur ein Verhalten. Aber an Beispielen kann man es diskutieren.“ Ziel des Curriculums war, für die Gesellschaft nicht nur gute Biologen, sondern auch gute Staatsbürger auszubilden.

 

Das Gegenteil besteht in apolitischem Fachgelehrtentum, dem Traum aller Diktatoren. Für sie sollen sich die Wissenschafter darauf beschränken zu leisten, wofür sie bezahlt sind, ohne sich „einzumischen“ in übergeordnete gesellschaftliche oder politische Belange.

 

Zu Hermann Rauschning sagte Adolf Hitler:

 

Und damit komme ich zu dem, was wir Bildung oder Erziehung nennen. So sicher und gewiss das, was wir heute hier erörtert haben, niemals die Gedanken des einfachen Parteigenossen beschweren darf, so dringlich ist es, mit dem, was man Allgemeinbildung nennt, ein für allemal Schluss zu machen. Die Allgemeinbildung ist das zersetzendste und auflösendste Gift, das der Liberalismus zu seiner eigenen Zerstörung erfunden hat. Es gibt nur eine Bildung für jeden Stand und in ihm für jede einzelne Stufe. Die volle Freiheit der Bildung ist das Privileg der Elite und derjenigen, die sie besonders zulässt. Der ganze Wissenschaftsbetrieb hat unter ständiger Kontrolle und Auslese zu stehen. Wissenschaft ist Hilfsmittel des Lebens, aber nicht sein Sinn. Und so werden wir auch konsequent sein und der breiten Masse des untersten Standes die Wohltat des Analphabetismus zuteil werden lassen. Wir selbst aber werden uns freimachen von allen humanen und wissenschaftlichen Vorurteilen.

 

Um dieses Programm zu verwirklichen, erzwang Hitler 1934 von den Beamten und Professoren des Dritten Reichs einen Eid, den Eid auf den Führer, kurz: den Führereid.

 

Ich schwöre: Ich werde dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes Adolf Hitler treu und gehorsam sein, die Gesetze beachten und meine Amtspflichten gewissenhaft erfüllen, so wahr mir Gott helfe.

 

Von den schätzungsweise 30’000 Universitätsangehörigen hoben alle die Hand zum Schwur. Nur zwei verweigerten den Eid: Kurt von Fritz, ausserordentlicher Professor an der Universität Rostock, und Karl Barth, Theologieprofessor an der Universität Bonn. Barth erklärte, könne den Eid nur mit dem Zusatz „soweit ich es als evangelischer Christ verantworten kann“ leisten. Ihm gegenüber argumentierte der Staatsanwalt, der Führereid verlange „blindes Vertrauen“ darauf, dass Hitler Gottes Geboten nicht widersprechen werde. Der Gottesbezug bestätige die bedingungslose Treue des Schwörenden zu Hitler. Der allein habe zu entscheiden, was Gottes Gebot zum Wohl Deutschlands entspreche. – Die beiden Eidverweigerer wurden entlassen. Kurt von Fritz emigrierte in die USA, Karl Barth nach Basel. Die übrigen Professoren hielten sich still.

 

Am anderen Ende der Skala steht Jacques Dubochet. Der Nobelpreis, erklärt er bei der Aufnahme für die „Plans Fixes“, bedeute zwar nicht eine Last, aber eine Verantwortung: „Plötzlich spielt es eine Rolle, was ich sage.“ Nachdem er schon als Doktorand angefangen hatte, Stellung zu beziehen (beim zweiten Date mit seiner späteren Frau beteiligte er sich an einer Demonstration gegen das AKW Kaiseraugst) trat er als Emeritus mit seiner Frau den Klima-Grosseltern bei (association „Grand-parents pour le climat“). An einer Manifestation in Lausanne trugen die beiden das Transparent: „Danke der Jugend!“ (Merci, les jeunes!)

 

Unversehens packte ein junger Mann Jacques Dubochet am Arm, zog ihn aus dem Umzug und führte ihn an der vollbesetzten Place de la Riponne auf die Rednertribüne: „Sprechen Sie zu ihnen!“ Vor den vielen hundert Köpfen wurde der Nobelpreisträger mit seiner Rede zum Maskottchen der Klimajugend. Beim Prozess der Credit Suisse gegen die Klimaaktivisten, die in einer ihrer Schalterhallen Tennis gespielt hatten, trat er als zentraler Zeuge auf.

 

Selbstvertrauen hatten ihm die Eltern mitgegeben. Und das Rezept gegen die Angst hatte er als Kind gefunden. Immer, wenn es finster wurde, hatte er sich zu fürchten begonnen, bis er eines Nachts auf den Gedanken kam zu fragen: Warum? Er erkannte, dass die Angst verschwinden werde, wenn er sie erklären könne. Gleich legte er sich dar, wie die Erde von der Sonne wegrotiert und sich am nächsten Tag wieder dem Licht zudreht. Und er sah: Das Verstehen verscheucht die bösen Geister.

 

„Die Wahrheit wird euch frei machen.“ Diesen Satz des Apostels Paulus verwendete Sigmund Freud als Motto für die „Traumdeutung“. Jacques Dubochet folgte dem Hinweis, als er beschloss, mit 26 Jahren sich selber kennenzulernen und dafür eine klassischen Psychoanalyse zu unternehmen. Sechs Jahre besuchte er den Therapeuten. Danach fragte er sich, was ihm die Kur gebracht habe, und er wiederholte die Frage alle zehn Jahre. Zu seinem Erstaunen zeigte sich, dass der Gewinn von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zunahm. Heute lautet das Fazit: „Die Psychoanalyse ist etwas vom Besten, was ich im Leben gemacht habe.“

 

Die Unerschrockenheit, sagt Jacques Dubochet gleich zu Beginn der Aufnahme, verdanke er den Eltern: „Was immer geschieht, du bist in Ordnung, und die Welt auch.“ Die Transaktionsanalyse hat den Wert dieser Haltung untersucht:

 

Die „Ich bin o. k.“-Grundeinstellung bedeutet: Ich sage ja zu mir, so wie ich bin, mit all meinen Sonnen- und Schattenseiten. Es ist eine Selbstwerteinschätzung. „Du bist o. k.“ bedeutet: Ich sage ja zum anderen mit seinen Vor- und Nachteilen. Es ist das Mass meines Vertrauens in die Fähigkeit anderer. (Karl Kälin)

 

Menschen in der Position „Ich bin o. k. / Du bist o. k.“  werden gute Führer, denn selbst in den unglücklichsten Situationen behalten sie grundsätzlich Respekt gegenüber sich selbst und den Mitarbeitern. Die vier Grundeinstellungen (1) „Ich bin o. k. / Du bist o. k.“ (Erfolg); (2) „Ich bin o. k. / Du bist nicht o. k.“  (Arroganz); (3) „Ich bin nicht o. k. / Du bist o. k.“ (Depression); und (4) „Ich bin nicht o. k. / Du bist nicht o. k.“ (Sinnlosigkeit) können kaum durch äussere Umstände modifiziert werden. Dauerhafte Veränderungen müssen von innen kommen, entweder spontan oder durch eine Art von „therapeutischem“ Einfluss: professionelle Behandlung oder Liebe – die Psychotherapie der Natur. (Eric Berne)

 

Mit seiner vertrauenden Grundeinstellung leitete Jacques Dubochet zwischen 1978 und 1987 eine Forschungsgruppe am European Molecular Biology Laboratory (EMBL) in Heidelberg. Er war in der Zielsetzung frei, musste aber nach jeweils fünf Jahren ein Resultat vorlegen, das die Wissenschaft voranbrachte.

 

Das Resultat bestand in einer neuartigen Form von Mikroskopie. Sie trug Jacques Dubochet 2015 den ersten Lennart Philipson Award des EMBL ein und 2017 den Nobelpreis. Mit dem Verfahren, das lebendige Strukturen bis hinunter auf Atomgrösse sichtbar macht, konnte 2021 die Omikron-Variante des Covid-19-Virus entziffert werden.

 

Angesichts der Tatsache, dass Jacques Dubochet als Kind an Lese- und Schreibschwäche litt (Dyslexie), deswegen den Schulabschluss nicht schaffte und mit 16 für zwei Jahre als Welscher an die Kantonsschule Trogen (Appenzell Ausserrhoden) kam, um sich danach trotz aller Hürden bis zum Nobelpreis durchzuschlagen, erweist sich die Wahrheit des Volksmunds: „Wo Liebe ist, da mangelt nichts.“ Merke.

 

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