Claude Reymond: Das Recht, das Land, die Künste.

21. November 1921– 2. Januar 2011.

 

Aufgenommen am 11. Juni 1999 in Prilly.

Claude Reymond – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Es ist ihm gelungen. Am Ende des Gesprächs mit den „Plans Fixes“ spricht Claude Reymond von der Duchesse de Lesdiguières. Der Herzog von Saint-Simon (er lebte unter Ludwig XIV. am Hof von Versailles) erwähnt sie in seinen Memoiren. Die Dame liess sich auf ihren täglichen Spaziergängen an der Seite des Pariser Erzbischofs Harlay von zwei Gärtnern begleiten. Sie hatten die Aufgabe, die Spuren zu tilgen, die das hohe Paar auf der Erde hinterlassen hatte … Von Claude Reymond gibt es ebenfalls keine Spuren – im Netz. Er bewegte sich bloss in der Gegenwart, nach dem Goethe-Wort: „Dasein ist Pflicht, und wär’s ein Augenblick!“ <

 

„Ich gehöre zur Generation, die ja sagte, wenn ihr eine Aufgabe angetragen wurde“, erklärt der schlanke, grossgewachsene 77-jährige Mann mit der Ausstrahlung eines Gentlemans: Perfekt sitzender Krawattenknopf zwischen weissen hohen Krägen, farbiges Brusttuch im Veston, eine edle Uhr mit schwarzem Lederband am linken Arm. „Anglophilie? Aber ja doch. Ich liebe diese Nation!“

 

Claude Reymond sagte ja, als er aufgefordert wurde, sich am Genfersee für die Exekutive des Dorfes Prilly, seiner Wohngemeinde, zur Verfügung zu stellen. Daneben liess er sich auch für zwanzig Jahre ins Waadtländer Kantonsparlament schicken: „Ich ging sehr gerne hin.“ Claude Reymond sagte ja, als er eingeladen wurde, eine Einführungsvor­lesung als Professor für Jurisprudenz an der Universität Lausanne zu halten und, gleichfalls als Professor, an der Universität Genf eine Lehrveranstaltung für den Vergleich der internationalen Rechtssysteme.

 

Im weiteren sagte Claude Reymond jedesmal ja, wenn ihm die die Leitung internationaler Schiedsgerichtsverfahren angetragen wurde. Vor der Kamera umreisst er kurz die die Struktur der Verläufe, beklagt, dass sie auf eine Privatisierung des Rechts hinauslaufen, geht aber aus Diskre­tions­gründen nicht auf die Fälle ein, mit denen er sich abgegeben hat – mit Ausnahme des Verfahrens zwischen Frankreich und Greenpeace, weil da sein Name in den Medien erschienen ist.

 

Am 10. Juli 1985 haben Agenten des französischen Auslands-Nachrichten­diensts das Schiff „Rainbow Warrior“ der Umweltorganisation im Hafen von Auckland versenkt. „Weiter kann ich nichts dazu sagen“, erklärt Claude Reymond 1999 im Film: „Der Schiedsspruch ist geheim.“ (Heute, ein Vierteljahrhundert später, wird er in Wikipedia umrissweise wiedergegeben.)

 

Schliesslich sagte Claude Reymond auch ja, als er eingeladen wurde, für die „Encyclopédie illustrée du Pays de Vaud“ die beiden Kunstbände zu betreuen. Bei dieser Arbeit beeindruckte ihn die Begegnung mit Benjamin Constant – seinem Stil, seinen Gedanken und seiner politischen Theorie. In der Folge regte Claude Reymond die Herausgabe von Constants Gesamtwerk und Korrespondenz an. Zum Zeitpunkt der Filmaufnahme ist das internationale Projekt mit verschiedenen Herausgebern beim fünfzigsten Titel ange­kommen.

 

Während Claude Reymond im Salon des schönen herrschaftlichen Hauses, das er von den Eltern geerbt hat, auf sein Leben zurückblickt, geht es dem Betrachter wie dem Buben auf dem Bielerseedampfer Berna: Vom hinteren Einstieg aus blickt er mit langen Augen auf die Eisenleiter, die zum Radkasten hinaufführt. Dort steht der Kapitän. Er hat den Überblick. Er lenkt den Kurs mit dem Sprachrohr. „Wie schön muss es sein“, denkt das Kind, „von dort oben aus auf den See und die Anlegestellen hinunterzublicken!“ Aber die Sicht aus überlegener Warte ist ihm verwehrt. Ein Emailschild verkündet: „Verboten aufzusteigen.“

 

Nun blickt das Kind vom Rand des Grundstücks am Genfersee auf das schöne, zweistöckige Haus in Prilly. Die Tür zur Terrasse geht auf. Zwei gediegene alte Herren treten heraus. Der eine deutet auf die Gartenmöbel: Da sass die Mutter. Ein Foto wird eingeblendet und zeigt eine schöne Frau auf der weiss gestrichenen Eisenbank aus vergangener Epoche. Sie hat den Blick von Virginia Woolf und das Gesicht des Sohnes. Unter dem Namen Catherine Colomb kam sie spät, aber dafür dauernd, in die Literaturgeschichte. Das „Historische Lexikon der Schweiz“ hält fest:

 

1921 begann Colomb im Geheimen zu schreiben und veröffentlichte 1934 ihren ersten Roman „Pile ou Face“ unter dem Pseudonym Catherine Tissot. Eine Spanne von jeweils zirka zehn Jahren trennte die danach publizierten und mit Colomb unterzeichneten Werke „Châteaux en enfance“ (1945), „Les Esprits de la terre“ (1953) und „Le Temps des anges“ (1962), die alle ins Deutsche übersetzt wurden.

 

Ihre damals von der traditionellen Westschweizer Kritik unverstandene Trilogie wurde vom Dichter Gustav Roud und in Frankreich, vor allem von Jean Paulhan, beachtet, bevor sie in der französischen Schweiz als eines der wichtigsten Werke der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Anerkennung fand.

 

„Haben Sie zuhause etwas von der Schriftstellerei Ihrer Mutter mitbekommen?“, fragt der eine alte Herr, „sprach man davon?“ „Nein. Sie war sehr zurückhaltend. Erst, als ich 21 war, gab sie mir das Manuskript zu den ‚Châteaux en enfance‘ zu lesen. Sie wollte wissen, ob sie die Namen lebender Personen verwenden könne. Ich riet ihr, solche zu nehmen, deren Familien ausgestorben waren.“ „Und wie kam der Roman bei Ihnen an?“ „Ich war sehr bewegt. Ich hatte nicht gewusst, welche Grundtrauer meine Mutter im Inneren herumtrug.“

 

Auch der Vater hatte seine verborgene Seite: „Er war Advokat. Im Unterschied zu den Medizinerhaushalten ist es bei den Juristen nicht üblich, dass man am Familientisch von den Fällen aus der Praxis spricht. Darum lernte ich meinen Vater erst mit zwanzig voll kennen, als ich in seine Kanzlei eintrat. Da hat er mir tief imponiert.“

 

Die Weite des Blicks, die der Kapitän vom Radkasten aus hat, kennzeichnete Claude Reymond von Jugend auf. Während eines juristischen Gastsemesters in Basel verschaffte er sich Zutritt zum Seminar von Karl Barth: „Ein Genie!“, ruft der 77-Jährige begeistert. „Der grösste Theologe des 20. Jahrhunderts!“ Claude Reymond erinnert sich: „Die Studenten schrieben jedes Wort von ihm mit. Er aber protestierte: ‚Sie müssen das nicht aufzeichnen! Ich bin nicht Barthianer. Schriebe ich heute meine Dogmatik, würde ich alles ganz anderes sagen.‘“ Claude Reymond resümiert: „Karl Barth hatte nicht eine trockene Intelligenz, sondern eine grosszügige. Das machte ihn einmalig.“

 

Das Leben im Glauben, das den bedeutenden Basler Theologen prägte, ist auf Claude Reymond übergegangen. Im Grossen Rat des Kantons Waadt trug er als Politiker und Jurist dazu bei, dass die Staatskirche und die Freikirche miteinander fusionierten. Einer seiner Söhne wurde Pfarrer und übernahm die Kirchgemeinde des Nachbarorts. Der andere wurde Musiker und Orchester­intendant. Die Tochter Ärztin. „Sie sehen“, sagt Claude Reymond auf der Terrasse, „ich lebe wie ein Adliger des 18. Jahrhunderts: Ich habe meinen Seelsorger, meinen Musiker und meine Ärztin.“

 

Vom hinteren Einstieg des Dampfschiffs Berna aus blickt der Betrachter mit langen Augen auf die eiserne Leiter und denkt sich: „Wie schön muss es sein, von dort oben aus auf den See und die Anlegestellen hinunterzublicken!“ Aber nicht jeder kann Kapitän werden. Den meisten steht ein Emailschild im Weg: „Verboten aufzusteigen.“

 

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