Séverine Bujard: Schauspielerin und Regisseurin. Dort gehörte ich hin.

24. Juli 1947 –

 

Aufgenommen am 24. August 2022 in Aubonne.

Séverine Bujard – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Für Séverine Bujard, die Grande Dame der Westschweizer Kulturszene (bekannt durch Bühne, Film und Fernsehen), hat sich mit dem Alter einiges verändert: Mit 75 steht sie, aus Angst vor Aussetzern, nicht mehr auf den Brettern. Dafür inszeniert sie noch; aber nicht mehr mit Profis, sondern mit Laien: Gleich zwei Truppen am Genfersee haben sie engagiert; sie bringen etwas hervor, das sich in Séverine Bujards Augen sehen lässt. Aber das eigentliche Sprechtheater, das früher ihr Leben ausfüllte, besucht sie nicht mehr: „Was dort gespielt wird, entzieht sich meinem Verständnis.“ <

 

In mehr als achtzig Theaterrollen ist Séverine Bujard an den namhaften Häusern der Westschweiz aufgetreten, unter anderem am Théâtre de Vidy unter Charles Apothéloz und an der Comédie de Carouge unter Georges Wod. Obwohl sie eingeladen wurde, in Paris zu spielen, blieb sie in der Schweiz; auch den Filmpreis, der ihr in Los Angeles zugesprochen worden war, holte sie nie ab. Ab 1984 begann sie zu inszenieren. Am Ende zeichnete sie für die Regie bei mehr als vierzig Produktionen. Ausserdem versah sie Rollen für Film und Fernsehen, darunter ein paar Serien.

 

Séverine Bujard war in ihrem Beruf glücklich. Sonst hätte sie ihn nicht übers Pensionsalter hinaus praktiziert. Spielen war für sie ein Fest. Angeleitet vom eminenten Regisseur André Steiger, in dessen Truppe sie mit 24 Jahren eintrat, lernte sie, wie sie sagt, den Text zu lesen: Verstehen, was die Wörter bedeuten. Nachvollziehen, was in den Dialogen geschieht. Das Ungesagte erspüren, dass dahinter lauert. Und dann erleben, wie man in Fahrt kommt. Spüren, wie auch der Partner die Flügel ausbreitet: „Da liegt das höchste Glück“, sagt Séverine Bujard. „Es ist schwer zu erklären, aber das Wesentliche passiert nicht in den Sätzen, die wir aussprechen; auch nicht in den Rollen, die wir spielen, sondern in dem, was sich zwischen den Beteiligten einstellt.“ Wenn es sich ereignet, sind die Künstler im Flow und wissen: Alles stimmt! Den Zuschauern bringt das eine Sternstunde:

 

Das Konzept des Regieteams, das zusammen mit Gaetano Donizettis Meisterpartitur auf die Utopie reiner Menschlich­keit hinausläuft, hätte nicht so überwältigend ausfallen können, wenn nicht die Staatsoper Stuttgart mit Claudia Muscho als Annina und Kai Kluge als Nemorino zwei Sänger hätte ins Feld führen können, die stimmlich, musikalisch und darstel­lerisch das Rollenideal in jeder Hinsicht erfüllen. Deshalb ging die gespannte Aufmerksamkeit, mit der das vollbesetzte Opern­haus die Schlussarien verfolgte, über technische Aner­kennung und künstlerische Teilnahme hinaus: Sie erwuchs dem Bewusstsein, einen einmaligen Musiktheater-Moment zu erleben. „Und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen“ (Goethe).  

 (Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt vom 22. November 2022: L'Elisir d'amore.)

 

Wenn sich Séverine Bujard heute in eine Schauspiel-Vorstellung setzt („oh, selten genug!“), versteht sie nicht mehr, was gesagt wird. Erschwert wird die Aufnahme nicht nur durch sprechtechnische, sondern auch durch konzeptionelle Hürden: Die Rollen (wenn es sie noch gibt) werden nicht länger verkörpert, sondern ausgestellt, und zwar oft durch mehrere Spieler gleichzeitig, quer durch alle Geschlechter: „Mir entgeht dann, in welcher Situation sich die Personen befinden und wer wer ist.“

 

Die Entwicklung, die sich auf der Welt vollzog, hat nun das Schauspiel des badischen Staatstheaters für die Besetzung von Bertolt Brechts „Leben des Galilei“ übernommen. Es fragt nicht mehr, welcher Schauspieler sich von Aussehen, Alter und Können her am besten für welche Rolle schickt, sondern gibt allen das Recht, alles zu spielen, nach dem Stichwort, dass jede Berücksichtigung von Alter, Geschlecht, Talent und Eignung Diskriminierung bedeute und folglich ungerecht sei.  

 

So dürfen nun Jannik Süselbeck, Claudia Hübschmann, Jens Koch und Gunnar Schmidt nacheinander ein bisschen Galilei spielen, daneben aber auch ein bisschen Frau Sarti, Galileis Haushälterin, den Dogen von Venedig, den Grossherzog von Florenz etc. pp., ungeachtet ihres Alters, ihres Geschlechts und ihres Talents. Die Einheitlichkeit der klassenlosen und genderneutralen Gesellschaft auf der Bühne wird hergestellt durch Einheitlichkeit der Maske und Standardisierung des Spiels. Damit können keine individuellen Vorzüge mehr in Erscheinung treten. Alle sind gleich viel wert, was leider bezogen aufs Sprecherische nicht gilt. Alle dürfen aber gleich viel spielen. Wir sind am Ende der Unter­schei­dung von Haupt- und Nebenrollen. Hochgehalten wird die „Teamleistung“.

 (Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt vom 19. Januar 2023: Leben des Galilei.)

 

Séverine Bujard, die Grande Dame der Westschweizer Kulturszene (bekannt durch Bühne, Film und Fernsehen), vermisst bei der heutigen Theaterarbeit den Humor auf der Bühne und auf der Probenbühne. „Alles ist viel zu ernst. Man sagt: ‚Wir sind nicht hier, um zu lachen!‘ (On est pas là pour rigoler !) Aber so macht die Arbeit keinen Spass mehr.“ Séverine Bujard hatte noch in einer Zeit gewirkt, wo beides Platz gehabt hatte: Ausgelassenheit und selbstverständliche Perfektion. Damals konnte, auf einer ganz andern Bühne, nämlich dem Motorschiff Büren, der Schifführer Stephan Dölker dem Geschäftsleiter der Bielersee-Schiffahrts-Gesellschaft erklären: „Herr Rüfli, wir sind nicht hier, um zu arbeiten. Wir sind hier, um es schön zu haben!“

 

Séverine Bujard beklagt, dass an der Schule den jungen Menschen die Bewunderung ausgetrieben wird. Im Unterschied zu den Jugendvorstellungen ihrer Zeit betreten die Heranwachsenden das Theater heute mit kritischer, ja abschätziger Haltung. Die ist indes, wie Berthold Viertel, Schriftsteller, Dramaturg, Cineast und Regisseur, erklärte, tödlich für „die Illusion, die hier [in den Künsten] eins und alles ist“. Die abschätzige Haltung „verleiht dem Auge der Zuschauer den bösen Blick, der tot sieht, was noch um Leben kämpft; sie macht den quellenden Augenblick in Menschen versiegen, die nur diesen Augenblick haben, und ihn nur haben, indem sie spielen. Der ent­wertete Schauspieler muss weiterspielen und gegen eine Suggestion, die stärker ist als die seine, mit durchschnitten Nerven aufkommen.“

 

Im Ersatz von Enthusiasmus durch Besserwisserei liegt jene Kehrseite der Aufklärung, die schon Lichtenberg beklagt hat:

 

Sagt, ist noch ein Land ausser Deutschland, wo man die Nase eher rümpfen lernt als putzen?

 

Und Walther Killy vermerkte, zwanzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg:

 

Es ist eines der bedenklichsten Anzeichen für den wahren Zustand unserer gegenwärtigen Kultur, dass sie Humor und Satire als Werkzeug geistiger Auseinandersetzungen nicht mehr kennt.

 

Séverine Bujard hält in der Begegnung mit den „Plans Fixes“ fest, wie sie am Ende ihres Theaterlebens Zeugin eines grossen Wandels geworden ist:

 

Was dieser heute baut / reisst jener morgen ein.

 (Andreas Gryphius.)

 

„So ist der Lauf der Welt“, resümiert die 75-jährige Theaterfrau ergeben. Und das Solothurner Lied fasst in seinem Refrain die Dinge mit philosophischem Gleichmut zusammen:

 

’s isch immer, ’s isch immer eso gsi!

 

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