Noemi Lapzeson: Ein Ort, der Körper.

28. Juni 1940 – 11. Januar 2018.

 

Aufgenommen am 22. Januar 2015 in Genf.

Noemi Lapzeson – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Drei Jahre nach der Aufnahme für die „Plans Fixes“ findet der Körper der Tänzerin, Lehrerin und Choreographin Noemi Lapzeson nach 78-jähriger Lebensreise durch Buenos Aires, New York, London und Genf seine letzte Ruhe im Friedhof der Könige (Cimetière des Rois), „der als Genfer Panthéon betrachtet wird“ (englischsprachige Wikipedia). Ihr Werk hat sie im Tanz hinterlassen. Darum wird ihr das Interview nicht gerecht. <

 

Von der ersten Minute an kennzeichnet Schieflage den Film, der für die „Plans Fixes“ die Begegnung mit der 75-jährigen Noemi Lapzeson festhält. Der Interviewer Alexandre Demidoff ist erheblich länger als die zierliche Tänzerin, Lehrerin und Choreographin. Von seiner hohen Warte herab spricht er sie mit Noemi an und legt ihr beschützerhaft den Arm auf den Rücken, während er sie im Vorspann durchs Théâtre du Grütli führt. Dazu redet er auf sie ein: Dass sie den modernen Tanz nach Genf gebracht habe, welches vor ihr eine Wüste gewesen sei. Dass jede ihrer Produktionen einer Offenbarung gleichgekommen sei. In bewunderndem Ton zählt Alexandre Demidoff die Titel auf, die Noemi Lapzeson in Genf realisiert hat, angefangen mit „There is another shore, you know“ aus dem Jahr 1981.

 

Währenddessen signalisiert die Haltung von Noemi Lapzeson Abwehr. Sie fühlt sich bedrängt. Der Interviewer tritt ihr zu nahe, geistig und räumlich. Darum möchte sie ihn gern abschütteln, darf das aber nicht, weil die Begegnung gefilmt wird. Es geht um ihr Vermächtnis. So macht sie mit wie ein braves Kind, liefert aber nur das Minimum an Selbstpreisgabe und behält das Wesentliche für sich. Auf diese Weise wird Schieflage zum Kennzeichen des Films.

 

Alexandre Demidoff versucht, die sich entziehende Künstlerin mit verstärk­tem Ausdruck von Zugewandtheit und Bewunderung zurückzu­gewinnen für ein gelassenes, freimütiges Gespräch, doch steht auch er unter Stress: Leistungs­­stress. Er hat aufgeschrieben, welche Aspekte die Aufnahme berühren soll, und sich vorgestellt, dass die Künstlerin die Stichworte aufnehmen und zu aussagereichen Bekenntnissen führen werde. Stattdessen bricht sie nach einem Satz ab oder sagt: „Es war nicht so“ oder ruft: „Sie wissen mehr als ich! Daran habe ich mich nicht mehr erinnert!“ So oszilliert die Begegnung zwischen Verhör und mündlichem Examen ... Schieflage.

 

Die Situation, die den Film zu Noemi Lapzeson kennzeichnet, hat Margret Walter-Schneider in ihrem grossen Buch „Denken als Verdacht. Unter­suchungen zum Problem der Wahrnehmung im Werk Franz Kafkas“ beschrieben, und zwar bei jener Erzählung, die Max Brod mit dem Titel „Die Truppenaus­hebung“ versehen hat:

 

Die Truppenaushebung findet auf folgende Weise statt: „Es ergeht der Auftrag, dass an einem bestimmten Tag in einem bestimmten Stadtteil alle Einwohner in ihren Wohnungen bleiben müssen, ein Soldat verliest das Verzeichnis der Hausgenossen“, die sich mustern lassen müssen. „Gewöhnlich sind alle da. Es geschieht aber auch, und dieses ist häufiger, dass mehr Leute da sind, als in dem Verzeichnis stehn.“ Leute aus der Fremde, die gehört haben, „dass irgendwo, vielleicht sehr weit, bei Verwandten oder Freunden, Aushebung ist“. Sie ziehn das Beste an, was sie haben, und machen sich auf den weiten Weg nach dem Ort, wo die Aushebung stattfinden soll. Sie werden aber nicht ausgehoben. Scham erfüllt sie; sie merken erst jetzt, „dass sie sich zu einer fremden Aushebung gedrängt“ haben. „Niemals ist ein solcher Überzähliger ausgehoben worden und niemals wird etwas derartiges geschehn.“

 

Schuld daran, dass das nie geschieht und nie geschehen wird, ist das Verzeichnis, das der Soldat verliest. Die Aushebung orientiert sich an diesem Verzeichnis. Das „Verzeichnis der Hausgenossen“ aber entspricht nicht dem gegenwärtigen Stand der Dinge: die neuerdings aus der Fremde Zugezogenen werden darin nicht erwähnt, obwohl sie, wie die Geschichte deutlich macht, als Hausgenossen aufgenommen worden sind. Die Aushebung richtet sich nach der Vergangenheit: als Hausgenosse kommt nur in Betracht, ausgehoben wird nur, wer auf dem Verzeichnis steht. Die Vergangenheit wird auf Kosten der Gegenwart respektiert. Das Vorhandensein eines Verzeichnisses ist schuld daran, dass in der Truppenaushebung gewisse Anwesende als Überzählige übergangen werden, dass nicht alle ausgehoben werden.

 

Einmal blitzt im Film das „Verzeichnis“ am unteren Bildrand auf: das Blatt mit den Gesprächsthemen. Es enthält die Fragen, zu denen die informierte Ballettöffentlichkeit von Noemi Lapzeson eine Auskunft erwartet, nicht aber das, was Noemi Lapzeson von sich aus über sich selber sagen möchte. Das „Verzeichnis“ indes erklärt, warum Alexandre Demidoff nicht auf das „Über­zählige“ eingehen kann.

 

Zum „Überzähligen“, das nicht „ausgehoben“ wird, gehört der an mehreren Stellen wiederholte Satz: „Ich hatte damals genug vom Tanzen. Ich wollte es aufgeben.“ Zum „Überzähligen“ gehört auch die Tochter. Ihretwillen schlug Noemi Lapzeson das Angebot aus, zu Marthe Graham zurückzu­kehren, ihre mythischen Rollen zu übernehmen und eigene Choreographien an der Company zu erarbeiten.

 

Eine knappe Stunde lang geben sich Befrager und Befragte alle Mühe, zusam­men hervorzubringen, was man eine anständige Unterhaltung nennt. Er verbreitet gute Laune, Zugewandtheit und akribisches Wissen über den Interview­gegenstand; und sie strengt sich an zu liefern, was von ihr als willfährigem Objekt erwartet wird. Aber die Situation geht gegen ihre Natur. Darum kneift Noemi Lapzeson zum Aufnehmen der Fragen das Gesicht zusammen. Sie will verstehen, wonach gefragt wird, und erkennt, dass es am Wesentlichen vorbeizielt.

 

Der Betrachter aber – und vielleicht im Innersten auch Alexandre Demidoff – hat längst gemerkt, dass Noemi Lapzesons Inhalte nicht in der Sprache der Wörter liegen, sondern in der Sprache der bewegten Körper. Ihre Stärke ist nicht das Erklären, sondern das Zur-Darstellung-Bringen. So wird sie zwar im Théâtre du Grütli und in ihrem Wohnzimmer beim Reden gefilmt – aber daheim ist sie anderswo.

 

256 Views
Kommentare
()
Einen neuen Kommentar hinzufügenEine neue Antwort hinzufügen
Ich stimme zu, dass meine Angaben gespeichert und verarbeitet werden dürfen.*
Abbrechen
Antwort abschicken
Kommentar abschicken
Weitere laden
Dialog mit Abwesenden / Réponses aux Plans Fixes 0