Fernand Scheller: Eine Stimme für die Entwicklung.

2. März 1923 – 30. November 2006.

 

Aufgenommen am 19. November 1996 in Choulex.

Fernand Scheller – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Gäbe es nicht das Dokument in den „Plans Fixes“, vor bald dreissig Jahren in seinem Haus gedreht, wo in aller Welt könnte man noch etwas über Fernand Scheller erfahren? Das Netz kennt ihn nicht. Auch nicht Wikipedia. Wenn man vernehmen will, was er zu sagen hatte, muss man die Filmwieder­gabe auf maximale Lautstärke heben und die Ohren scharf spitzen, denn die Kopie ist fahrlässig untersteuert. Wenn man den Mann aber aus der Versenkung hervorgeholt hat, zeigt sich: Er war zu seiner Zeit eine ganz grosse Nummer im Nahen Osten, in Südostasien und in Afrika. <

 

In der Erstausgabe von 1587 zitiert das Volksbuch vom Doktor Faust „das wahre Sprichwort: Was zum Teufel will, lässt sich nicht aufhalten“. Fernand Scheller hat im Lauf seines Lebens die Wahrheit des Satzes immer wieder erfahren, sich aber auch immer wieder dagegengestemmt, damit die Welt für die Armen und Ärmsten nicht zur Hölle werde. So kam es (und das unbestimmte Subjekt „es“ passt gut in diesen Zusammenhang), dass Fernand Scheller mit 16 Jahren auf eine Bahn geriet, die ihn mitten die Krisenpunkte der neueren Zeitgeschichte brachte.

 

Der Anfang begann unscheinbar. 1939, bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, suchte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz in Genf mangels Personal freiwillige Helfer zur Bewältigung der sprunghaft gestiegenen Aufgaben. Fernand, vom Vater angestossen, mobilisierte seine Klassenkameraden am Gymnasium und die Führerkollegen bei den Pfadfindern. Danach verbrachten die jungen Leute ihre Freizeit damit, die Kartei der Kriegsgefangenen täglich nachzuführen.

 

Fünf Jahre später kam es dazu, dass Fernand Scheller, mittlerweile 21, vom Roten Kreuz beauftragt wurde, Transporte zu organisieren. Bei dieser Arbeit lernte er das zerbombte Deutschland kennen – und die Konzentrationslager; danach Albanien und das auseinanderbrechende Mitteleuropa. 1948 mandatierte die UNO das IKRK, sich um die palästinensischen Flüchtlinge im Nahen Osten zu kümmern, und weil das Personal knapp war, wurde der 25-jährige Fernand Scheller damit betraut.

 

Bei dieser Gelegenheit ging ihm zum ersten Mal das Paradox auf, dass humanitäre Nothilfe, der Eile geschuldet, den Schaden eher vergrössert als verkleinert, ja häufig „geradewegs ins Desaster führt“. Fernand Scheller erzählt, dass ihm die geistliche Leitung des Libanon für 15 000 Menschen das problematische Gelände von Tel El Zataar zuwies. Dort kam es, wie Fernand Scheller befürchtet hatte, zum Desaster: 1500 Palästinenser wurden im Bürgerkrieg 1976 von christlichen Milizen massakriert.

 

Auf Mission in Afrika versuchte Fernand Scheller, dem konglolesischen Ministerpräsi­denten Moïse Tschombé auszureden, die vertriebenen Balubas im bota­nischen Garten unterzubringen: „Sie werden sehen, in einem Jahr werden dort keine Bäume mehr stehen. Die Menschen werden das Holz zum Feuermachen brauchen.“ Fernand Schellers Warnung traf zu. Was zum Teufel will, lässt sich nicht aufhalten.

 

Immer wieder erfuhr der hohe Vertreter der Völkergemeinschaft, der mittlerweile vom IKRK zur UNO gekommen war, dass sein Sachverstand und seine Argumente bei den Vorgesetzten (zum Beispiel UN-Generalsekretär Kurt Waldheim) und den Gewalthabern auf taube Ohren stiessen.

 

Auf den Monat genau sagte er den Zusammenbruch Kambodschas voraus. Dafür wurde er von Kurt Waldheim gerüffelt. Den Roten Khmer sagte er voraus, dass sie mit ihrer Politik das Land in die Hungersnot führen würden. „Und schauen Sie, bei einer Bevölkerungszahl von sechs Millionen Menschen kam es zu zwei Millionen Toten“, erklärt Fernand Scheller. „Fünfhundert­tausend fielen dem Krieg zum Opfer, und anderthalb Millionen dem Hunger sowie verschiedenen Krankheiten, das heisst der Stupidität.“

 

Daneben machte Fernand Scheller freilich auch die Dummheit der Funktionäre zu schaffen. 2021 zeigte Heidi Kastner in ihrem Buch „Dummheit“, dass sich messbare Intelligenz und Dummheit nicht ausschliessen müssen. Die Gerichtspsychiaterin und Klinikleiterin analysierte die Lern- und Faktenverweigerer sowie die Denkfaulen, die lieber dem Trend folgen, statt Wissen zu erwerben und selbst zu denken. Dazu beschrieb die Seelenärztin noch die Kategorie der Gefühlsdummen, die sich nicht in andere hineinversetzen können oder wollen und jegliches Mitgefühl vermissen lassen.

 

Für ein Volk in Papua Neuguinea, das noch in der Steinzeit lebte, forderte Fernand Scheller Süsskartoffeln an. „Okay, wir schicken gleich Reis.“ „Nein, Süsskartoffeln! Die Leute kennen kein Metall. Sie haben keine Töpfe, um Reis zu kochen. Sie brauchen Kartoffeln, die sie ins Feuer legen können.“ „Verstanden. Der Reis ist unterwegs.“ Scheller: „Es blieb mir nichts übrig, als die ganze Ladung Reis feilzubieten, um mit dem Erlös Kartoffeln zu kaufen. Daraufhin wurde mir vorgeworfen, Hilfsmittel veruntreut zu haben.“

 

Doch auf einen Menschen, der den Kopf fest auf den Schultern trägt und die Dinge klar sieht, kann man nicht verzichten. Über die Pensionsgrenze hinaus wurde Fernand Scheller von der UNO in Kriegs- und Krisengebiete geschickt, damit die Welt für die Armen und Ärmsten nicht zur Hölle werde. Als er sich dann endgültig in der Schweiz niederliess, die bis heute von allem Unglück verschont geblieben ist, stiess er – im Kontrast zu den Kriegs- und Krisengebieten – auf lauter ernste, bittere Mienen. Und die alten Menschen, denen man im Rest der Welt wegen ihres Wissens und ihrer Erfahrung mit Achtung begegnet, behandelt man, so der Eindruck des Heimkehrers, in der Eidgenossenschaft „wie Wegwerffeuerzeuge“.

 

Um nicht der Depression zu verfallen, stellte er sich die Aufgabe, ausschliesslich jene Cafés und Geschäfte zu frequentieren, in denen das Personal lächelt. Und er fand heraus: „Es gibt hier solche Menschen! Nur sind es meistens keine Schweizer.“

 

2006, zehn Jahre nach der Aufnahme für die „Plans Fixes“, starb Fernand Scheller im Alter von 83 Jahren. Es ist wohl kein Zufall, dass das „deutsche Sprich­­­wörter-Lexikon“ auf seinen 7600 zweispaltigen Seiten in Sechspunktschrift nur gerade drei Redensarten zum Stichwort „Lächeln“ kennt: 

  1. Er lächelt wie ein Mops, der den Schnupfen hat.
  2. Süsses Lächeln.
  3. Wenn er lächelt, so hütet man sich vor ihm, und wenn er lacht, so läuft man von ihm. 

Ja, Sie haben recht, lieber Herr Scheller. Lachen und Lächeln ist hierzulande nicht gut angeschrieben, und wir haben unsere Aufgabe nicht erfüllt. Doch schauen Sie: Jetzt packen wir sie an!

 

;)

 

250 Views
Kommentare
()
Einen neuen Kommentar hinzufügenEine neue Antwort hinzufügen
Ich stimme zu, dass meine Angaben gespeichert und verarbeitet werden dürfen.*
Abbrechen
Antwort abschicken
Kommentar abschicken
Weitere laden
Dialog mit Abwesenden / Réponses aux Plans Fixes 0