Dr. Christian Müller: Honorarprofessor, Psychiater.

11. August 1921 – 29. März 2013.

 

Aufgenommen am 2. August 1995 in Onnens.

Dr Christian Müller – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Der Lausanner Psychatrieprofessor Christian Müller stammt aus einer alten Berner Theologen-und Ärztefamilie. Der Grossvater Max Müller sen. war Psychiater. Der Vater Max Müller jun. leitete die Irrenanstalten Waldau und Münsingen und lehrte Psychiatrie an der Universität. Auch Christian Müller wurde Ordinarius für Psychatrie und Klinikleiter. Seelenarzt ist für ihn „einer der schönsten Berufe der Welt“. <

 

„Das Problem der Psychatrie ist in einem Satz zu bezeichnen“, erklärt Christian Müller im Gespräch für die „Plans Fixes“: „Wir Ärzte und Klinik­angehörigen reden zu viel über die Patienten und zu wenig mit ihnen.“ Er sagt das zu seinem jungen Kollegen Gérard Salem, der ihn befragt. Dann wendet er sich an die Kamera: „Oft habe ich gelitten, dass ich den Patienten, die in einer Psychose versunken waren, nicht genug helfen konnte. Und doch ist der Beruf schön. Jeder Kranke stellt ein neues, individuelles Problem dar. Man muss versuchen, es durch den Dialog zu verstehen. Das Geheimnis erhellt sich im Gespräch, nicht durch Laboruntersuchungen. Der Psychiater muss akzeptieren, nicht immer helfen, aber doch Erleichterung schaffen zu können. In gewissen Fällen gelingt es ihm, eine katastrophale Situation zu verändern und eine fundamentale Verbesserung herbeizuführen. Im Unterschied zu den anderen ärztlichen Disziplinen geht es bei der Heilung eines psychisch Kranken nicht um ein Organ, sondern um eine Seele, eine Person, eine Existenz, ein Universum. Das ist phantastisch, das ist grandios.“

 

Als Kind wuchs Christian Müller in der Dienstwohnung des Direktors auf. Sie befand sich, nach Anweisung des Gesetzes, auf dem Anstaltsgelände. Da waren tausend Insassen untergebracht; die meisten im grossen Sälen, einzelne in Zellen. Es roch nach Schweiss, Urin, saurer Suppe. Tag und Nacht durchzogen Schreie das Gelände. Unaufhörlich wiederholten Stimmen ihre Klagen.

 

Mit vierzig Jahren wurde Christian Müller Direktor der psychiatri­schen Klinik des Kantons Waadt in Cery. Die Verhältnisse hatten schon angefangen, sich zu bessern. Der Vorgänger hatte einen Neubau erwirken können. Unter Christian Müller wurde er eingeweiht. „Bei einzelnen Patienten gab uns das Arbeit: Sie zogen ihre dumpfen Zellen den hellen, sauberen Zimmern vor.“

 

Später sorgte Christian Müller dafür, dass die Klinik durch Dezentralisierung kleiner wurde. Im Kantonsgebiet wurden drei weitere Stützpunkte eingerichtet. Mit der Gründung einer Schule für Psychatriepfleger liess sich der jahrelange Personalnotstand beheben. Nach und nach wurde der Klinikaufenthalt für die psychisch Kranken menschenwürdig. Die frühere Patientin E. S., mit einem „Nervenzusam­menbruch“, wie sie sagt, notfallmässig eingeliefert, zählt den Monat in Cery heute zu den glücklichsten Zeiten ihres Lebens.

 

Lange kümmerten sich Ärzte und Pfleger nicht gern um die alten, verwirrten, inkontinenten, gedächtnisschwachen Patienten. Sie wurden abgeschoben und vernachlässigt. Den Notstand behob die Schaffung einer eigenen Klinik. So brachte es Christian Müller als Pionier der Gerontopsychiatrie ins historische Lexikon der Schweiz.

 

Pionier war er auch bei psychoanalytischen Behandlung der Psychosen. Im Unterschied zum Ausland (Christian Müller erwähnt Frankreich und Deutschland) suchten die Schweizer Psychiater stets den Ausgleich zwischen den Schulen und betrieben ein pragmatisches „Sowohl als auch“. Diesen Ansatz bekräftigten die Ergebnisse der Schizophrenieforschung: „Lange suchte man nach einer Ursache für diese schrecklichen Krankheit“, erklärt Christian Müller. „Heute weiss man, dass ein ganzes Bündel dahintersteckt.“

 

Schon während der Assistenzzeit bei Manfred Bleuler in Zürich hatte er über die psychoanalytische Behandlung der Schizophrenie geforscht. In Lausanne unternahm er jetzt den Versuch, einem gewalttätigen, unansprechbaren Langzeitpatienten namens Pierre Duperret zu helfen. „Ich sah ihn täglich eine Stunde, manchmal länger, auch am Samstag und Sonntag. Mit der Zeit gab es eine Besserung. Er konnte sich wieder in die Gesellschaft integrieren und die Klinik verlassen. Doch dann kam er zurück, nicht aus gesundheitlichen Gründen, sondern aus Heimweh, und flehte mich um ein Zimmer an. Tagsüber bot er immer noch auf dem Markt von Lausanne Früchte feil. Am Ende vermachte er die Summe, die er im Lauf der Jahre hatte zusammen­sparen können, der Klinik.“

 

Nun aber ist es hoch an der Zeit [sagt Friedrich Torberg], von jenem steinreichen Amerikaner zu berichten, der zu seiner Umwelt keine Beziehung fand, allmählich einer aggressiven Form von Verfolgungswahn anheimfiel und sich zur Behandlung seines verstörten Bewusstseins in ein bestens empfohlenes Sanatorium in der Umgebung Wiens begab.

 

Die Sache liess sich nicht gut an. Der Patient blieb unzugänglich, verschanzte sich hinter Sprachschwierigkeiten, die in Wahrheit – denn er war altöster­reichi­scher Herkunft – nicht existierten, peinigte Schwestern und Wärter, machte den Ärzten das Leben sauer und reagierte auf ihre Bemühungen nicht selten mit Tobsuchtsanfällen.

 

Schliesslich, da für einen steinreichen Amerikaner nichts zu teuer ist, wurde Professor Wagner-Jauregg geholt.

 

Auch ihm gegenüber verharrte der Patient in seiner störrischen Verschlossen­heit. Nach wenigen Minuten begann er zu toben, und Wagner-Jauregg, der durch zwei rasch herbeigeholte Wärter vor Tätlichkeiten geschützt werden musste, verliess die Stätte seines erfolglosen Besuchs.

 

Jetzt gab es nur noch eine letzte Hoffnung: Professor Freud. Aber würde er kommen? Er kam. Man informierte ihn über die Situation, verheimlichte ihm natürlich, dass man sich nicht als ersten an ihn gewandt hatte, und geleitete ihn zum Zimmer des Patienten. Vor der Türe nahmen neben den Ärzten zwei Wärter Aufstellung, für alle Fälle mit einer Zwangsjacke ausgerüstet.

 

Freud trat ein.

 

Drinnen blieb es ruhig, fünf Minuten lang, zehn Minuten lang. Dann riskierte es der Chefarzt, die Türe spaltbreit zu öffnen: Professor und Patient sassen in angeregtem Gespräch.

 

Als Freud nach einer halben Stunde herauskam, überschütteten ihn die Wartenden mit enthusiastischen Worten der Bewunderung und Gratulation. Einer der Ärzte ermannte sich:

 

„Jetzt dürfen wir’s Ihnen ja gestehen, Herr Professor. Vor ihnen war Professor Wagner-Jauregg hier, und nicht einmal ihm ist es gelungen, mit dem Patienten Kontakt zu finden.“

 

Freud wehrte bescheiden ab:

 

„Ich bitte Sie – was versteht ein Goj [Nichtjude] von meschugge [Wahnsinn]?“

 

Hier könnte die Geschichte enden, tut es aber nicht, sondern setzt sich zu einer Replik Wagner-Jaureggs fort, mit der er der Äusserung Freuds Paroli bot, ohne sie zu kennen.

 

Als nämlich ein Informierter bei Wagner-Jauregg erschien, um ihm jenen Vorfall zu hinterbringen: „Denken Sie nur, nach Ihnen ist der Professor Freud gekommen und hat mit dem Patienten eine halbe Stunde lang gesprochen, und dabei hat sich herausgestellt –“, da unterbrach ihn Wagner-Jauregg mit einer abtuerischen Handbewegung:

 

„Lassen S’ mich aus“, sagte er. „Das interessiert mich nicht, was zwei Tepperte [Dummköpfe] miteinander reden.“

 

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