Nago Humbert: Gründer der Médecins du Monde Suisse. Nago Humberts tausend Leben.

24. August 1951 –

 

Aufgenommen am 25. Januar 2023 in Cortaillod.

Nago Humbert – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Ein mitreissendes Gespräch. Nago Humbert hat so viel zu sagen, dass die Zeit vergeht wie im Flug. Beim Überblick über ein vielfältiges Leben kann natürlich einiges nur gestreift werden; anderes bleibt ganz im dunkeln. Offen bleibt zum Beispiel die Frage, wie es zur Aufnahme des Medizinstudiums kam. Um mehr zu erfahren, müsste man das Gespräch nach dem Ende des Films noch eine ganze Weile fortsetzen können. Dass sich der Einsatz lohnen würde, steht ausser Frage. <

 

Wenn die Franzosen über einfache Gemüter sagen, man habe sich schnell ein Bild von ihnen gemacht (on a vite fait le tour de leur personnalité), so trifft auf Nago Humbert das Gegenteil zu:

 

Es ist schwer, einen Intuitivwahrnehmer und Fühlenentscheider richtig kennenzulernen – weil er so vielschichtig und unergründlich ist, überrascht er immer wieder mit neuen Seiten.

 

Das schreiben die Psychologinnen Stefanie Stahl und Melanie Alt über den Menschentyp, den sie mit „Einfühlungsminister“ überschreiben:

 

Einfühlungsminister sind liebenswert, zurückhaltend und tiefgründig. Sie interessieren sich für die Zusammenhänge und Beziehungen zwischen den Dingen und den Menschen, die nicht auf den ersten Blick zu erfassen sind.

 

Die meisten Einfühlungsminister entwickeln eine sehr gute Menschen­kenntnis. Sie erfassen oft schneller als die betroffene Person selbst, was in dieser vorgeht. Intuitiv spüren sie die Stärken und Schwächen ihrer Mitmenschen auf. Was die Stärken eines Menschen betrifft, sind die meisten Einfühlungsminister Meister darin, diese zum Vorschein zu bringen. Hierbei hilft ihnen ihre ausgeprägte Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen.

 

Neben ihrer Menschenkenntnis haben Einfühlungsminister häufig treffsichere Visionen und Ahnungen, was gesellschaftlichen Wandel und Veränderungen anbelangt. Sie sind kreative Problemlöser, die oft mit neuen und ungewöhnlichen Ansatzpunkten aufwarten.

 

Mit diesen Abschnitten sind die starke Ausstrahlung und der grosse menschliche Reichtum von Nago Humbert zusammengefasst. An ihnen bestätigt sich die Feststellung, welche Hugo von Hofmannsthal im „Gespräch über Gedichte“ ausgesprochen hat:

 

Wollen wir uns finden, so dürfen wir nicht in unser Inneres hinabsteigen: draussen sind wir zu finden, draussen.

 

Demzufolge hört man Nago Humbert mehrmals betonen, wie wichtig für den Verlauf seines Lebens Begegnungen mit anderen Menschen waren. Die Eltern führten eine Gaststätte und waren so absorbiert, dass sie die Erziehung der beiden Söhne vernachlässigten. Halt gaben die Grosseltern. Mit Dankbarkeit spricht Nago Humbert von deren Wärme und Grosszügigkeit.

 

Der Grossvater nahm den Buben mit auf Montage, wenn er als PTT-Beamter im gebirgigen Neuenburger Jura auf die Masten stieg und Telefonleitungen zog. Von ihm bekam Nago drei Lehren fürs Leben: 1. Sei solidarisch. 2. Sei nicht neidisch auf andere. 3. Sei stolz auf dich.

 

Nicht erstaunlich, wurde Nago Humbert später Kommunist. Er trat in den Parti Ouvrier Populaire ein und kandidierte dort zweimal für die kantonale Exekutive, den Neuenburger Regierungsrat.

 

Einfühlungsminister wollen und brauchen eine Arbeit, mit der sie einen übergeordneten Sinn verbinden können, eine Arbeit, die mit ihren inneren Einsichten und Werten im Einklang steht.

 

Vor der Kamera der „Plans Fixes“ streift Nago Humbert die äusseren Stationen seines linksengagierten Werdegangs: Ausbildung zum Sozialhelfer. Medizinstudium. Spezialisierung auf Pädiatrie. Fokussierung auf Schmerzbekämpfung und Palliativmedizin. Spitalarzt in Palästina. Angestellter der WHO in Genf. Arzt im Kinderspital der kanadischen Provinz Québec. Professor an der Universität Montreal. Gründer und Präsident der Médecins du Monde Suisse. Leiter des Observatoire Ethique et Santé humanitaire mit Sitz in Neuenburg.

 

Und da wird es spannend. Nago Humbert lässt den Zuschauer teilnehmen an der Arbeit im Spital. Palliativmedizin bedeutet ja, dass nach menschlichem Ermessen keine Heilung mehr möglich ist. Und das bei Patienten unter 18 Jahren. Während sich die Behandlung von Betagten auf ein paar Monate beschränkt, kann sie sich bei Heranwachsenden über Jahre hin­ziehen. Bindungen entstehen. Die jungen Patienten sprechen den Arzt an: „Nago, sag mir …“

 

„Man darf“, erklärt der Spezialist, „die Eltern, die Geschwister und die Grosseltern nicht vernachlässigen“. Das Leid weckt Schuldgefühle. Es verändert die Familienstruktur. Dann kommt der Tod. Er wirkt ins Leben hinein; verändert, ja sabotiert zuweilen die Entwicklung der Weiterlebenden. In diesem Umfeld darf der Arzt nicht schwach werden. Der Patient und seine Familie haben ein Recht, an ihm Halt zu finden.

 

Mit wenigen Strichen umreisst Nago Humbert die vielfältigen Situationen am Krankenbett, hier und im globalen Süden, und schon wird der Mensch lebendig, mit dem er es zu tun hat. Vor der Kamera gibt er wieder, was der kleine Patient sagt, und übersetzt, was er ausdrücken wollte. Er erklärt, was der Arzt in diesem Moment denkt und an welche Regeln er sich hält. So realisiert er im Dialog mit dem Patienten das Verhältnis von Ich und Du:

 

Wer Du spricht, hat kein Etwas zum Gegenstand. Wer Du spricht, steht in der Beziehung. (Martin Buber)

 

„Kohärenz, Solidarität und soziale Gerechtigkeit.“ Mit diesen Begriffen wird auf der Seite der „Plans Fixes“ das Fazit zum Porträt von Nago Humbert umschrieben:

 

Mille vies, trois mots pour les définir : cohérence, solidarité et justice sociale. 

 

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