13. Dezember 1917 – 23. November 2006.
Aufgenommen am 17. September 1988 in Genf.
Paul Géroudet – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)
> „Nur der Naturforscher ist verehrungswert, der uns das Fremdeste, Seltsamste mit seiner Lokalität, mit aller Nachbarschaft, jedes Mal in dem eigensten Elemente zu schildern und darzustellen weiss.“ Nach dieser Anweisung „Aus Ottiliens Tagebuche“ (abgedruckt in Goethes „Wahlverwandtschaften“ 1809) ist Paul Géroudet ein Leben lang vorgegangen. Damit realisierte der Genfer Ornithologe glanzvoll die Betrachtungsweise seines berühmten Kollegen aus dem Grossherzogtum Weimar. <
Angeleitet von Maurice Blanchet (einem Kameraden), begann Paul Géroudet als Sekundarschüler (collégien), im Genfer Seebecken die Möwen ins Auge zu fassen. Nach kurzer Zeit hatte er heraus, wie man sie anlockt, festhält und beringt. Blanchet, der Kamerad, schlug später eine künstlerische Laufbahn ein und wurde Chefbühnenbildner am Grand Théâtre de Genève. Doch immer noch faszinierte ihn die Natur. 1956, im Alter von vierzig Jahren, gelang es ihm, den Biber am Ufer der Versoix wieder heimisch werden zu lassen, und mit 61 veröffentlichte er „Der Biber und sein Reich“ (Le Castor et son royaume). In einer Rezension würdigte Paul Géroudet das Werk des Kameraden:
Schon als Kind begeisterte er sich für die Natur, für alles, was lebt. Er folgte seiner Berufung als Künstler – er ist Maler und Lehrer an der Genfer Kunstgewerbeschule – und hat die Begeisterung seiner Jugend nie verleugnet. Mit seiner Beobachtungsgabe, seiner Sensibilität und seiner Tatkraft setzte er sich für die Sache des Bibers ein. Die intime Kenntnis des Tiers, seines Lebens und Zusammenspiels mit der Umwelt erlangte Maurice Blanchet vor allem im Feld, durch nächtliche Wachen und tagsüber durchgeführte Erkundungen. Als Autor versteht er es, die wilde Natur, die sich in unserer Reichweite befindet, gekonnt zu beschreiben; er lehrt zu sehen, er regt zum Nachdenken an. Sein Buch ist Wahrheit und Poesie zugleich: Es ist Wissenschaft, ohne wissenschaftlich zu sein. „Die Faszination des Bibers auszudrücken und zu seinem Schutz beizutragen waren die einzigen Motive, die mich bewogen haben, dieses Buch zu schreiben“, sagt Maurice Blanchet, indem er uns diesen Schatz schenkt.
Die Worte, mit denen Paul Géroudet das Werk des Kameraden umschrieb, charakterisieren auch ihn, den Rezensenten: Nie den Schwung der Jugend verlieren. Sich öffnen für die Faszination des Lebens in der Natur. Durch lange Aufenthalte im Feld die Beobachtungsgabe trainieren. Mit literarischen Mitteln zum Nachdenken anregen. „Sie haben eigentlich ein Leben lang geschrieben“, stellt Bertil Galland bei der Aufnahme für die „Plans Fixes“ fest. Der 71-Jährige nickt: „Das stimmt. Das Schreiben war meine Droge.“
Paul Géroudets ersten Beitrag druckte das Vereinsorgan der Westschweizer Vogelfreunde „Unsere Vögel“ 1935 ab. Der Verfasser war damals achtzehn. Vier Jahre später, bei Ausbruch des Kriegs, wurde er schon Chefredaktor der Zeitschrift. Er blieb es 55 Jahre lang. Seine Feder vereinigte literarische Eleganz mit wissenschaftlicher Exaktheit, Wahrheit und Poesie zugleich. Anfangs kamen die Artikel auf dem Strohlager der Truppenunterkünfte zustande, denn die Armee hatte den Naturfreund zum Aktivdienst eingezogen.
Draussen, das heisst im Zivilleben, betrieb er den Brotberuf: Volksschullehrer. Insgesamt 27 Jahre lang. Als er mit fünfzig das Unterrichten aufgab, um sich ungeteilt beim WWF dem Naturschutz und der Vogelkunde zuzuwenden, konnte er schon einen zweiten Ehrendoktor entgegennehmen: 1967 von der Universität Genf. Den ersten Dr. h.c. hatte ihm die Universität Neuenburg 1964 verliehen. Nachdem „le Géroudet“ (= „Guide des oiseaux d’Europe“) dreizehn Auflagen erfahren hatte, brachte der Vogelkundler im Alter von siebzig Jahren 1987 noch „Les Oiseaux du Lac Léman“ heraus, mit Bildern von > Robert Hainard.
Bertil Galland tippt für das Filmporträt möglichst alle ornithologischen Themen an. Auf diese Weise versucht er, die Dimensionen des Mannes und seines Werks auszuleuchten. Dabei sagte schon Goethe: „Eines recht wissen und ausüben gibt höhere Bildung als Halbheit im Hundertfältigen.“ Nun liefert Gallands Sprunghaftigkeit nicht mehr als ein Gewirr von Punkten. Es fehlt die umfassende Linie, wie bei den Bildern, die erst zutagetreten, wenn man die numerierten Punkte miteinander verbindet.
Loyal lässt sich Paul Géroudet auf die verschiedenen Einzelaspekte ein, doch bekundet seine Redeweise – und noch mehr sein Mienenspiel – dass er alles in grösseren Zusammenhängen sieht. Sie auszusprechen ist ihm indessen verwehrt. So zeigt die Aufnahme zwei unterschiedliche Auffassungsweisen: bei Galland die des Fliegenbeinzählers, bei Géroudet die des Naturphilosophen.
Diese Unterschiedlichkeit trat auch zutage beim Ausflug, den Johann Peter Eckermann am Mittwoch, den 26. September 1827 machte:
Goethe hatte mich auf diesen Morgen zu einer Spazierfahrt nach der Hottelstedter Ecke, der westlichen Höhe des Ettersberges, und von da nach dem Jagdschloss Ettersburg einladen lassen. Der Tag war überaus schön, und wir fuhren zeitig zum Jakobstore hinaus. Hinter Lützendorf, wo es stark bergan geht und wir nur Schritt fahren konnten, hatten wir zu allerlei Beobachtungen Gelegenheit. Goethe bemerkte rechts in den Hecken hinter dem Kammergut eine Menge Vögel und fragte mich, ob es Lerchen wären? – Du Grosser und Lieber, dachte ich, der du die ganze Natur wie wenig andere durchforschet hast, in der Ornithologie scheinst du ein Kind zu sein.
„Es sind Ammern und Sperlinge“, erwiderte ich, „auch wohl einige verspätete Grasmücken, aber Lerchen sind es nicht. Es ist nicht die Natur der Lerche, sich auf Büsche zu setzen. Die Feld- oder Himmelslerche steigt in die Luft aufwärts und geht wieder zur Erde herab, wirft sich auch auf irgendein Stoppelfeld nieder, aber sie geht nicht auf Hecken und Gebüsche. Die Baumlerche dagegen liebt den Gipfel hoher Bäume, von wo aus sie singend in die Luft steigt und wieder auf ihren Baumgipfel herabfällt.
„Hm!“ sagte Goethe, „Sie scheinen in diesen Dingen nicht eben ein Neuling zu sein.“
Über die Unterschiedlichkeit der beiden Auffassungsweisen, die einem da begegnen, hat Arthur Schopenhauer nachgedacht. Er kam zum Schluss:
[Die unphilosophischen Menschen] sehn in den Dingen stets nur das Einzelne und Individuelle, nicht das Allgemeine derselben.
Bloss die Höherbegabten sehn mehr und mehr, je nach dem Grad ihrer Eminenz, in den einzelnen Dingen das Allgemeine derselben.
Die Richtung des Geistes auf das Allgemeine ist die unumgängliche Bedingung zu echten Leistungen in der Philosophie, Poesie, überhaupt in den Künsten und Wissenschaften.
Der rohe Mensch hat für allgemeine Wahrheiten keinen Sinn; das Genie hingegen übersieht und versäumt das Individuelle: die erzwungene Beschäftigung mit dem Einzelnen als solchem, wie sie den Stoff des praktischen Lebens ausmacht, ist ihm ein lästiger Frondienst.
Ja, so ist es, erklärte Sokrates:
Kleinlicher Sinn widerspricht völlig einer Seele, die immer nach dem Ganzen im Göttlichen und Menschlichen strebt.