François Gross: Journalist.

18. März 1931 – 27. Dezember 2015.

 

Aufgenommen am 25. Mai 1999 in Freiburg i. Ü.

François Gross – Association Films Plans-Fixes

 

> Welch ein Wandel! Als François Gross 1970 die Chefredaktion der Welschfreiburger Tageszeitung „La Liberté“ übernahm, hiess das Blatt im Volk „La Menteuse“ (die Lügnerin). Sie sei der Grund, sagten die Leute, warum die Glocken im Paradies unaufhörlich läuten würden – der katholischen Mär zufolge, dass jede Lüge droben einen Schwengel in Bewegung setzt. Ein halbes Jahrhundert später, 2020, wurde „La Liberté“ in einer Publicom-Umfrage, welche die Gesamtheit der Schweizer Medien untersuchte, als das glaubwürdigste Medium des Landes beurteilt. <

 

Bei der Bielersee-Schiffahrts-Gesellschaft trat Kapitän Eduard Weber nach über vierzig Jahren vom Fahrdienst zurück. Angefangen hatte er als Steuermann auf der alten „Berna“, einem kohlegefeuerten Halbsalondampfer, der von 1913 bis 1964 auf der Linie Biel–St. Petersinsel–Erlach die Hauptkurse 63/64, 69/70 und 75/76 versah. Vom Motorschiff „Petersinsel“, der grössten Einheit auf Bieler-, Neuenburger- und Murtensee, ging Weber 1995 in Pension. Auf seine Karriere zurückblickend, rief er mit Nostalgie: „Dampf war die schönste Zeit!“

 

Zu einem vergleichbaren Fazit führt das Gespräch mit dem pensionierten Chefredaktor François Gross: „Blei war die schönste Zeit!“ So klar, wie sich beim Raddampfer die Übertragung von Kraft in Bewegung erfassen lässt, lag beim Bleidruck die Umwandlung vom Manuskript zum Printprodukt offen vor Augen und greifbar für die Hand.

 

Die Autoren tippten ihre Texte in eine mechanische Schreibmaschine. Die Redaktoren versahen die Blätter mit Korrekturen und schrieben Schriftart und -grösse an den Rand. Setzer übertrugen die Artikel auf der Zeilensetzmaschine Linotype in Bleizeilen. Die Korrektoren beugten sich über die Fahnenabzüge. Der Produktionschef verteilte die Textfelder mit dem Metteur beim Umbruch über die Seite. Am Ende lief die Zeitung durch die Offsetmaschine und kam vom Fliessband gefaltet und gebündelt in den Vertrieb. Bis hinüber zum Postbahnhof, wo Studenten nachts die Sendungen für den Briefträger sortierten, wirkten damals viele Hände zusammen. Heute haben Algorithmen, Prozessoren, Server und Bildschirme diese Menschen ersetzt.

 

François Gross sperrte sich gegen die Entwicklung. Bis 1990, als er die Chefredaktion der „Liberté“ mit sechzig Jahren verliess, produzierte er seine geschliffenen und gefürchteten Leitartikel mit der Schreibmaschine. „Wir haben die Zeitung erst spät, ja eigentlich zu spät auf Digitalisierung umgestellt“, sagt der 68-Jährige im Gespräch mit Guy Ackermann für die „Plans Fixes“ selbstkritisch.

 

Aber er wurde von der Trägerschaft auch nicht unter Druck gesetzt:

 

„La Liberté“ wird bis heute vom im Sinne des Presseapostolats gegründeten Pauluswerk (Œuvre de Saint-Paul) der Schwestern vom heiligen Paulus in Freiburg gedruckt und produziert.

(Wikipedia.)

 

Die frommen Frauen überliessen François Gross freie Hand bei der Umgestaltung des Blatts. Gleich wie die Universität Freiburg i. Ü. war die Zeitung Ende des 19. Jahrhunderts als Instrument des katholischen Konservativismus gegen Liberalismus und Säkularisation entstanden.

 

1871 gegründet, im Besitz der Saint-Paul SA in Freiburg, ist La Liberté eine der allerletzten von den grossen Medienkonzernen vollkommen unabhängigen Westschweizer Tageszeitungen. Ihr Untertitel hat mehrfach geändert: Katholische Tageszeitung, Der Volksfreund, Politische, religiöse, soziale Tageszeitung, Morgenzeitung, Westschweizer Tageszeitung, herausgegeben in Freiburg.

(Journal catholique quotidienL’ami du peupleQuotidien politique, religieux, social, Quotidien du matin, Quotidien romand édité à Fribourg.)

(e-newspaperarchives.ch)

 

François Gross erzählt: „Als ich 1970 nach Freiburg kam, waren die Strassen noch voller Soutanen, Kutten, Hauben und Kapuzen“. Doch unter seiner Chefredaktion befreite sich „La Liberté“ von Kirche und Obrigkeit und stellte sich in den Dienst einer politisch mündigen, pluralistischen Leserschaft.

 

Sechs Jahre zuvor hatte „Der Bund“, nach seinem Anspruch „die seriöse Zeitung der Bundesstadt“, eine vergleichbare Wandlung durchgemacht. Der junge Verleger Werner Stuber hatte den freisinnigen Bieler Stadtpräsidenten nach Bern berufen, und als Chefredaktor verlieh Dr. Paul Schaffroth dem Titel eine Neuausrichtung. „Der Bund“ hiess nicht länger „Organ der freisinnigen Politik“, sondern „unabhängige liberale Tageszeitung“.

 

Im Unterschied zu Wissenschaft und Literatur, wo die Arbeit an einem Text dann beendet ist, wenn in den Augen des Urhebers die höchste Qualität erreicht wurde, muss der Journalist – unabhängig vom Perfektionsgrad – sein Produkt zur Abgabezeit aus der Hand geben. Er schafft also selten das Beste, sondern nur das unter gegebenen Bedingungen Bestmögliche.

 

Die Arbeitssituation des Journalisten ist damit vergleichbar mit einer Examenssitzung. Auch dort geht es darum, sich in zeitlich beschränktem Rahmen erfolgreich mit einer Frage auseinanderzusetzen, die erst zu Beginn der Prüfung ins Blickfeld tritt. Das „hic Rhodos, hic salta!“ gibt der Sache den Thrill.

 

Die Qualitäten, die es braucht, um zu bestehen, hat die Hochschuldidaktik definiert:

 

– Angstfreiheit

– Selbstvertrauen

– Zeitmanagement

– Geschickter Umgang mit Informationen

– Fähigkeit, das Wesentliche zu erkennen

– Formulierungs- und Darstellungsstrategien

– Produktkontrolle

 

Was sich aus dem Zusammenspiel der Faktoren ergibt, tritt in der Begegnung mit dem Journalisten François Gross zutage. Locker in den Sessel zurückgelehnt, setzt er Wort für Wort und Satz für Satz hintereinander und übermittelt auf unangestrengte Weise seine Inhalte. Druckreif natürlich.

 

So führt der pensionierte Chefredaktor mit seiner Persönlichkeit vor, dass Journalismus kein Lernjob ist, sondern ein Begabungsjob. Das zeigte sich schon bei Johannes von Müller (1752–1809), dem grössten Historiker seiner Zeit. Als 23-Jähriger wurde er bereits von Voltaire als Tacitus der Schweiz begrüsst, und um 1800 war sein Name mindestens so bekannt wie der Goethes.

 

Zum Verfassen grosser geschichtlicher Arbeiten verdiente Johannes von Müller seine Einnahmen unter anderem durch Rezensionen. Dem Bruder meldete er:

 

Wegen der Literaturzeitungen hat Goethe sehr freundschaftlich und ausführlich an mich geschrieben.

 

In der Tat hatte der Weimarer Dichterfürst gefragt:

 

Dürft ich um gefällige baldige Antwort bitten, ob wir uns eines köstlichen Beitrags von Ihnen vielleicht vor Schluss des Jahres erfreuen dürften?

 

Journalistisch zu arbeiten fiel Müller leicht:

 

Die Artikel kosten mir keine Zeit. Die Bücher lese ich unter dem Frisieren; die Rezensionen schreibe ich so schnell die Feder läuft.

 

Empfänger Goethe stellte anerkennend fest:

 

Müller ist eine Natur, dergleichen nicht wieder zum Vorschein kommen wird, so wie seine Art Bildung für künftige Zeiten auch unmöglich ist.

 

Ein weises Wort. Der Schweizer Historiker hatte „sich“ aus sich gemacht. – Über den Journalisten François Gross ist dasselbe zu vermelden.

 

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