Charles H. Rittmeyer: Ingenieur-Geometer – lic. theol.

4. Mai 1918 – 11. Oktober 2002.

 

Aufgenommen am 27. Februar 1991 in La Tour-de Peilz.

Charles H. Rittmeyer – Association Films Plans-Fixes

 

> Zum Jubiläum des siebenhundertjährigen Bestehens der Eidgenossenschaft drehten die „Plans Fixes“ das Gespräch mit einem protestantischen Waadtländer Pfarrer, der von seiner Kirche abgesetzt worden war. Zwar musste ihm die hochrespektable Institution aufgrund eines Bundesgerichtsurteils Titel und Würde zurückgeben, doch konnte sie ihm weiterhin eine Stelle verweigern. Um ihm zu helfen, sich und seine Familie durchzubringen, schuf das Kirchenvolk daraufhin den „F.A.R.: Fonds pour les activités du pasteur Rittmeyer“ (Fonds für die Tätigkeit von Pfarrer Rittmeyer). Mit dessen Hilfe kam 1991 das beeindruckende Porträt eines geradlinigen Menschen zustande. <

 

Von den 382 Persönlichkeiten, die seit 1976 ins Filmpantheon der „Plans Fixes“ aufgenommen wurden, trifft auf keine eindrücklicher die Erklärung zu, die Arthur Schnitzler ans Ende seiner Komödie über den österreichischen Antisemitismus „Professor Bernhardi“ gesetzt hat. Im Stück kommt der angesehene jüdische Arzt und Klinikleiter wegen angeblicher „Religionsstörung“ für zwei Monate ins Gefängnis. Nach der Entlassung erklärt ihm ein hoher Ministerialbeamter, der Hofrat Winkler, sein Vergehen. Es lag in einem Mangel an Vorsicht und einer unrealistischen Auffassung der Welt- und Gesellschaftsverhältnisse:

 

Wenn man immerfort das Richtige täte, oder vielmehr, wenn man nur einmal in der Früh, so ohne sich’s weiter zu überlegen, anfing’, das Richtige zu tun und so in einem fort den ganzen Tag lang das Richtige, so sässe man sicher noch vor Nachtmahl im Kriminal [Zuchthaus].

 

Charles Rittmeyer kam mit sieben Jahren auf den Weg, „das Richtige zu tun und so in einem fort den ganzen Tag lang das Richtige“. Damals hatte er den Vater verloren. Der Dorfarzt von Sainte-Croix hatte sich in der Zeit der spanischen Grippe für die Patienten aufgerieben. Er war mit 34 Jahren verschieden und hinterliess eine Frau mit vier Kindern. Charles war das älteste. Nach ihm kamen drei Schwestern. Die jüngste war eins.

 

Dem Jungen wurde beigebracht: „Du musst deiner Mutter beistehen und deinen Schwestern den Vater ersetzen!“ Demzufolge lernte Charles in der Schule fleissig und brachte es zu hervorragenden Noten. – Der Verlust des Vaters wurde zum Segen: „Vorher hatte ich mich immer an ihn lehnen können. Auf all meine Fragen hatte er die Antwort gewusst. Jetzt musste ich selber die Erklärungen suchen, spürte aber im Innern seine Billigung.“

 

Die Liebe zur Natur führte ihn in die Landschaft. Und um sie besser zu verstehen, begann er, sie noch im Schulalter zu kartographieren. Es war nichts als folgerichtig, dass er an der ETH Lausanne ein Studium als Vermessungsingenieur aufnahm. Doch fürs Praktikum, das zur Zulassung in den öffentlichen Dienst erforderlich war, wurde erst ein Jahr nach dem Diplom eine Stelle frei. Charles Rittmeyer benutzte die Zeit, um sich an der ETH Zürich weiterzubilden.

 

Hier wurde Zweite Weltkrieg für den jungen Ingenieur zum einschneidenden Erlebnis: Wie konnten sich das Kulturvolk der Deutschen dermassen für die Bestialität der Nazis begeistern? Bei dieser Frage ging es ihm gleich wie dem zwei Jahre jüngeren Waadtländer Arztsohn > Armand Forel. Der hatte noch vor dem Krieg bei einem Besuch in München mitbekommen, wie die Juden gezwungen worden waren, mit ihren Zahnbürsten zuerst das Pflaster und dann die Zähne zu putzen.  

 

Forel stellte sich die Frage: „Was kann man – was kann ich – gegen den Faschismus tun?“ Er erkannte, dass er als einzelner ohnmächtig sei und einer Gruppierung beitreten müsse. Doch die Schweizer Parteien wiegelten ab: Was er behaupte, gesehen zu haben, sei im Land von Beethoven, Schiller und Goethe unmöglich. Die einzigen, die in den Dreissigerjahren die Gefahr weder leugneten noch verniedlichten, waren die Kommunisten. Deshalb trat Armand mit 23 Jahren dieser verbotenen Partei bei. Ein Jahr später, 1944, wirkte er bei der Gründung der Schweizerischen Arbeiterpartei mit.

 

Im Gegensatz zu Armand Forel war Charles Rittmeyer kein politisch, sondern ein religiös denkender Mensch. Bei ihm stellte sich das Problem der Theodizee: Wie kann Gott das Böse zulassen? Um darauf eine Antwort zu finden, schrieb er sich an der Universität Genf fürs Theologiestudium ein. Seine Umgebung reagierte ohne Verständnis. Sie sah nur den Verzicht auf den Broterwerb und die Weigerung, den erlernten Beruf auszuüben. Aber Charles Rittmeyers Denkrahmen war weiter gespannt.

 

Jacob Burckhardt: Über Glück und Unglück in der Weltgeschichte.

 

Alles einzelne, und wir mit, ist nicht nur um seiner selbst, sondern um der ganzen Vergangenheit und um der ganzen Zukunft willen vorhanden.

 

Diesem grossen und ernsten Ganzen gegenüber sind die Ansprüche der Völker, Zeiten und Individuen auf dauerndes oder nur momentanes Glück und Wohlbefinden nur von sehr untergeordneter Bedeutung, denn weil das Leben der Menschheit ein Ganzes ist, stellen dessen zeitliche und örtliche Schwankungen nur für unsere schwachen Organe ein Auf und Nieder, ein Heil und Unheil dar, in Wahrheit aber gehören sie einer höheren Notwendigkeit an.

 

Diese „höhere Notwendigkeit“ suchte Charles Rittmeyer unter dem Aspekt der Heilsgeschichte zu verstehen. Er studierte die Evangelien und gewann die Einsicht, dass der Nazarener ein konsequenter, scharfer Denker gewesen war. Nur ging es darum, die Splitter, welche in der Bibel als einzelne Jesus-Worte überliefert sind, zu einem Gesamtbild zu vereinigen. Und siehe da: Das Puzzle ging auf.

 

Dabei half dem angehenden Theologen das Studium des griechischen Urtexts. In der Bergpredigt sagt Jesus laut allen Übersetzungen: „Selig sind die Armen im Geist, denn ihr ist das Reich der Himmel“ (Matth. 5.3). Im Original aber heisst es: „Selig sind, die den Geist erbitten.“

 

Es geht, nach Rittmeyers Auffassung, an dieser Stelle nicht um das Mitleid mit den Benachteiligten, sondern um das Streben nach Erkenntnis. Sie führt den Menschen bereits hienieden ins „Königreich des Himmels“ und macht aus ihm einen „Sohn Gottes“. – „Mit solchen Ideen werden Sie nie Pfarrer werden!“, warnte ein Genfer Theologieprofessor. Und der Grossvater, selber ein Pfarrer, rief: „Ah, du bewunderst dich selbst!“, wandte sich um und ging.

 

Voltaire: Das Naturkind.

 

Da er in seiner Kindheit nichts gelernt hatte, hatte er auch keine Vorurteile gelernt. Sein Verstand war nicht durch Irrtum gebeugt worden, sondern blieb in seiner ganzen Geradheit erhalten. Er sah die Dinge so, wie sie sind, während die Vorstellungen, die uns in der Kindheit vermittelt werden, dazu führen, dass wir sie unser ganzes Leben lang so sehen, wie sie nicht sind. Er sagte zu seinem Freund Gordon: „Eure Verfolger sind abscheulich. Sag mir, ob es in der Geometrie Sekten gibt.“ - „Nein, mein lieber Junge“, sagte Gordon seufzend, „alle Menschen sind sich über die Wahrheit einig, wenn sie bewiesen ist, aber über die dunklen Wahrheiten sind sie sehr gespalten.“

 

Es kam, wie es kommen musste. Charles Rittmeyer fand kein Pfarramt. Als er nach vielen Versuchen in Sainte-Croix unterkam, wo man sich noch mit Dankbarkeit an seinen Vater erinnerte, entschied der Synodalrat der Waadtländer Landeskirche, er predige „nicht den gemeinsamen Glauben“ und forderte ihn auf zurückzutreten.

 

Drei Jahre lang hielt der Seelenhirt dem Druck stand. Dann verfügte die Regierung des Kantons Waadt am 10. Oktober 1958 für ihn die „Aufgabe jeglicher Gemeindetätigkeit und die Verstossung aus dem Korps der Waadtländer Pfarrer“ (la cessation de toute activité dans la paroisse et l’exclusion du corps pastoral vaudois).

 

Voltaire: Das Naturkind.

 

„Ich merke jeden Tag, dass man hier unendlich viele Dinge tut, die nicht in Ihrem Buch stehen, und dass man nichts von dem tut, was es sagt. Ich gestehe Ihnen, dass mich das erstaunt und ärgert.“

 

Das Schweizer Bundesgericht revidierte den Ausschluss: Die Waadtländer Regierung könne Rittmeyer zwar wegen „Nichtübereinstimmung“ (non-convenance) die Stelle entziehen, nicht aber seinen Titel als Pfarrer und seine Mitgliedschaft im pfarrherrlichen Korps.

 

Ohne Einkommen des Vaters brachte sich die Familie mit dem Verdienst der Frau als Praxishelferin und den Zuwendungen des F.A.R. (Fonds pour les activités du pasteur Rittmeyer) auf bescheidenem Niveau durch. Am 27. Februar 1991 entstand der Film für die „Plans Fixes“. Charles Rittmeyer starb elf Jahre später im Alter von 84 Jahren.

 

Man erklärte ihm, was der Papst sei, und das Naturkind war noch mehr erstaunt als zuvor. Es sagte: „Davon steht kein Wort in Ihrem Buch! Das ist von lächerlicher Unbegreiflichkeit.“ 

 

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