Dr. Charles Durand: Psychiater – Medizinprofessor.

25. Mai 1910 – 25. März 2001.

 

Aufgenommen am 8. Mai 1991 in Nyon.

Dr Charles Durand – Association Films Plans-Fixes

 

> Die Taufe geschah gegen den Willen der Eltern. Aber als sie einmal abwesend waren, wurde der Dreijährige in die Kirche geführt und dem Sakrament unterzogen. Der laizistische Vater klagte daraufhin den Bischof vor Gericht der religiösen Nötigung an. Doch der Ausbruch des Ersten Weltkriegs verzögerte das Verfahren, und der Vater fiel im Feld. Später erlag die Mutter einer langen, schweren Krankheit. Als Charles Durand mit 17 aus Südfrankreich zum Studieren nach Paris zog, war er Vollwaise. <

 

Und sie kamen ans andere Ufer des Meeres in die Gegend der Gerasener. Und als er aus dem Schiff trat, lief ihm alsbald von den Gräbern entgegen ein Mensch mit einem unsauberen Geist, der seine Wohnung in den Grabhöhlen hatte. Und niemand konnte ihn mehr binden, auch nicht mit Ketten; denn er war oft mit Fesseln und Ketten gebunden gewesen und hatte die Ketten zerrissen und die Fesseln zerrieben; und niemand konnte ihn bändigen. Und er war alle Zeit, Tag und Nacht, in den Grabhöhlen und auf den Bergen, schrie und schlug sich mit Steinen. Da er aber Jesus sah von ferne, lief er hinzu und fiel vor ihm nieder, schrie laut und sprach: Was willst du von mir, o Jesus, du Sohn Gottes, des Allerhöchsten? Ich beschwöre dich bei Gott, dass du mich nicht quälest! Denn er sprach zu ihm: Fahre aus, du unsauberer Geist, von dem Menschen! Und er fragte ihn: Wie heisst du? Und er antwortete: Legion heisse ich; denn wir sind viele. Und er bat Jesus sehr, dass er sie nicht aus der Gegend triebe. Es war aber daselbst am Berge eine grosse Herde Säue auf der Weide. Und die unsauberen Geister baten ihn und sprachen: Lass uns in die Säue fahren! Und er erlaubte es ihnen. Da fuhren die unsauberen Geister aus und fuhren in die Säue, und die Herde stürzte sich den Abhang hinunter ins Meer, ihrer waren aber bei zweitausend, und ersoffen im Meer. Und ihre Hirten flohen und verkündeten das in der Stadt und auf dem Lande. Und sie gingen hinaus, zu sehen, was da geschehen war, und kamen zu Jesus und sahen den, der von den unsauberen Geistern besessen gewesen war, wie er dasass und war bekleidet und vernünftig, und fürchteten sich. Und die es gesehen hatten, sagten ihnen, was dem Besessenen widerfahren war, und von den Säuen. Und sie fingen an und baten ihn, dass er aus ihrer Gegend zöge. Und da er in das Schiff trat, bat ihn der Besessene, dass er bei ihm bleiben dürfte. Aber Jesus liess es nicht zu, sondern sprach zu ihm: Gehe hin in dein Haus zu den deinen und verkündige ihnen, wie grosse Wohltat dir der Herr getan und sich deiner erbarmt hat. Und er ging hin und fing an, zu verkündigen in den Zehn Städten, wie grosse Wohltat ihm Jesus getan hatte, und jedermann verwunderte sich.

(Mark. 5, 1–20.)

 

Charles Durand wollte ursprünglich nicht Psychiater werden, sondern Lehrer wie die Eltern, und erstrebte, am Gymnasium Philosophie zu unterrichten. Doch an der Sorbonne empfahl ihm die imponierende Gestalt von Professor Georges Dumas das Medizinstudium. Der Gelehrte, gleichzeitig Dr. med. und Dr. phil., gab an der psychiatrischen Klinik Sainte-Anne Philosophievorlesungen für die Patienten. Seine Lehrveranstaltungen zogen Intellektuelle an wie Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Paul Nizan, Raymond Aron, Jacques Lacan, Claude Lévi-Strauss und viele andere mehr.

 

Und sie kamen ans andere Ufer des Meeres.

 

Im vierten Studienjahr erkrankte Charles Durand an Lungentuberkulose. „Damals wurde man zur Kur in die Höhe geschickt“, erklärt der 81-Jährige in den „Plans Fixes“. „Ich geriet in eine schwere Sinn- und Lebenskrise. Nichts war mehr gewiss. Doch am Ende brachte mich die Krankheit weiter. Ich begriff, dass ich eine Heilkunst ergreifen müsse, die nicht ein krankes Organ behandelt, sondern den Menschen in seiner Gesamtheit. Auf diese Weise kam ich zu Psychatrie und Psychoanalyse.“

 

Und er war alle Zeit, Tag und Nacht, in den Grabhöhlen und auf den Bergen, schrie und schlug sich mit Steinen.

 

An der Schule hatte Charles Durand in Collioure, einem alten Fischerdorf der französischen Pyrenäen, Rugby gespielt. Als Psychiater kam ihm diese Erfahrung zugut: „Man lernt, mit der Gewalt umzugehen.“ Beim Rugby, sagt der Volksmund, handelt es sich um einen Sport von Gaunern, ausgeübt von Gentlemen: „Wenn einen der Gegner körperlich angreift, nimmt man seine Aggression als Teil des Spiels hin und erwidert sie, ohne Hass gegen seine Person zu empfinden.“

 

Niemand konnte ihn bändigen.

 

Als Charles Durand zu praktizieren begann, gab es noch keine Psychopharmaka. Der Arzt musste gewalttätigen Patienten körperlich standhalten können. Er setzte das brutale, aber bei gewissen Symptomen einzig wirkungsvolle Mittel des Elektroschocks mit Zurückhaltung ein. Sein Augenmerk galt dem Menschen.

 

Und er fragte ihn: Wie heisst du?

 

„Ich habe gelernt zu schweigen und zu hören“, sagt der Psychoanalytiker. Es gehe darum zu verstehen, was der Patient sage und was er verschweige. „Dafür muss man sich so in ihn einfühlen können wie ein Schauspieler in die Rolle. Er trägt die Figur zwar in sich, verschmilzt aber nicht mit ihr. Vielmehr beobachtet und kontrolliert er mit seinem Geist die beiden Ichs.“

 

Legion heisse ich; denn wir sind viele.

 

Charles Durand, eifriger Leser und Theatergänger, vervielfältigte sein Seelenleben durch die Begegnung mit anderen Menschen, gleichgültig ob real oder fiktiv. Eine Beziehung kann sich indessen nur bilden durch eine affirmative, das heisst: grundsätzlich wohlwollende Haltung – zu Menschen wie zu Texten. „Wer nicht wohlwollend liest, der kann nicht eigentlich lesen“, sagte Walther Killy. Und Goethe:

 

Die Kunst lässt sich ohne Enthusiasmus weder fassen noch begreifen. Wer nicht mit Erstaunen und Bewunderung anfangen will, der findet nicht den Zugang in das innere Heiligtum. Und der Kopf allein fasst kein Kunstprodukt, als nur in Gesellschaft mit dem Herzen.

 

Und als er aus dem Schiff trat, lief ihm alsbald von den Gräbern entgegen ein Mensch mit einem unsauberen Geist, der seine Wohnung in den Grabhöhlen hatte.

 

Seit langem wussten die Ärzte, dass es sich bei den „Verrückten“, den „Narren“, den „Tobsüchtigen“, den „Wahnsinnigen“, den „Verzückten“, den „Enthusiasten“, den „Blödsinnigen“, den „Scheuen“, den „Willenlosen“, den „Schwermütigen“ und den „Melancholikern“ um „Unfreie“ handelt:

 

Geisteskrankheiten, Seelenkrankheiten, Gemütskrankheiten, Seelenstörungen nennt man solche krankhaften Zustände, in denen der Mensch seiner moralischen Freiheit, d.h. seiner Selbstbestimmung, bleibend oder in immer wiederkehrenden Anfällen beraubt ist; daher werden solche Kranke zu recht auch Unfreie genannt.

(Brockhaus 1838.)

 

Ziel der Therapie sei es, sagt Charles Durand, den Patienten die Selbstbestimmung zurückzugeben.

 

Und sie gingen hinaus und sahen den, der von den unsauberen Geistern besessen gewesen war, wie er dasass und war bekleidet und vernünftig, und fürchteten sich.

 

Im Lauf seiner seelischen Entwicklung – man könnte auch von Selbstwerdung sprechen – fand Charles Durand die Freiheit, die Verbote der Eltern zu übertreten. Die kranke Mutter, der die Ärzte nicht helfen konnten, hatte ihn angefleht, nicht Medizin zu studieren. Und der laizistische Vater hatte ihm untersagt, einer Kirche beizutreten. Doch im Lauf seiner Tätigkeit erkannte Charles Durand, dass der Mensch ein gläubiges Wesen sei, ein „homo religiosus“.

 

Und er ging hin und fing an, zu verkündigen in den Zehn Städten, wie grosse Wohltat ihm Jesus getan hatte, und jedermann verwunderte sich.

 

Zusammen mit seiner Frau bekehrte er sich zum Glauben und trat der Kirche bei. Die beiden machten den Weg, auf den Ernst Schwyn (64), Pfarrer, Psychotherapeut und Selbstmordforscher die Patienten wies:

 

Ich will heute nicht mehr den Menschen abschleppen und in eine Glaubensposition führen. Sondern ich will ihn ermutigen, den Glauben anzunehmen, den er hat, schon dadurch, dass er existiert. Ich sage niemandem mehr: Du musst glauben! Sondern ich fordere ihn auf zu schauen, wie es in ihm drin schon lange glaubt.

 

Und sie fingen an und baten ihn, dass er aus ihrer Gegend zöge.

 

1946 übersiedelte Charles Durand in die Schweiz. Er war eingeladen worden, in der angesehenen Privatklinik von Prangins > Oscar Forels Nachfolger zu werden.

 

1971 nahm sich Charles Durand am Psychatriekongress von Mexiko die Freiheit, den Missbrauch des Fachs durch die sowjetischen Ärzte anzuprangern: Wer sich in Russland gegen das Regime äusserte, wurde mit der Diagnose „Verrücktheit“ im Irrenhaus interniert. Durands Antrag wurde nicht angenommen.

 

Doch der Protest war nicht sinnlos gewesen. 1977 wurde die Praxis der sowjetischen Psychiater am Kongress von Hawaii durch eine Resolution mit drei Stimmen Mehrheit verurteilt. Trotz des knappen Resultats gab die Manifestation den freien, den Patienten und nicht dem Regime verpflichteten Ärzten in Russland Mut zum Widerstand.

 

Haben die Juristen eigentlich schon eine solche Deklaration verabschiedet?

 

Antikriegsaktion in Sankt Petersburg

 

19-jährige Russin für poetischen Protest zu mehr als zwei Jahren Haft verurteilt

 

Darja Kosyrewa brachte Gedichtverse an der Statue eines ukrainischen Poeten an und muss deshalb nun zwei Jahre und acht Monate in Haft. Die russische Justiz verurteilte die junge Frau wegen „Diskreditierung der Armee“.

(Spiegel, 19.4.2025)

 

Es war aber daselbst am Berge eine grosse Herde Säue auf der Weide. Und die unsauberen Geister baten ihn und sprachen: Lass uns in die Säue fahren! Und er erlaubte es ihnen. Da fuhren die unsauberen Geister aus und fuhren in die Säue, und die Herde stürzte sich den Abhang hinunter ins Meer, ihrer waren aber bei zweitausend, und ersoffen im Meer.

 

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