- Pl8. Juni 1907 – 13. Juli 2000.
Aufgenommen am 23. Januar 1991 in Hauterive.
Gérard Bauer – Association Films Plans-Fixes
> Gérard Bauer ist ein Stratege, wie er im Buche steht. Die Typenpsychologinnen Stefanie Stahl und Melanie Alt haben ihn beschrieben: „Strategen bevorzugen Intuition und Denken. Die intuitive Wahrnehmung bewirkt, dass sie sich für das grosse Bild und nicht für die Besonderheiten interessieren. Als Denk-Entscheider treffen sie ihre Entscheidung aufgrund einer logischen und rationalen Analyse. Wegen dieser Kombination sind sie die unabhängigsten von allen Temperamenten. Man sagt ihnen eine gewisse Genialität nach.“ <
Gérard Bauers Persönlichkeit ist dermassen ausgeprägt, dass ihm jeder Typenpsychologe ohne Schwanken die Buchstabenfolge EInDW zuweist: Extravertiert, Intuitivwahrnehmer, Denk-Entscheider, Wahrnehmungstyp. Eine interessante Kombination. Stefanie Stahl und Melanie Alt fassen sie unter dem Titel „Zukunftsminister“ zusammen:
Wenn es darum geht, Potentiale zu erkennen, sind sie anderen immer einen Schritt voraus. Automatisch drängt sich ihnen eine Vision auf, wie etwas anders oder besser sein könnte. Diese visionäre Idee ist für Zukunftsminister ebenso zuverlässig wie für die Pragmatiker knallharte Fakten. Weil sie extravertiert sind, können sie sich sehr schnell und für vieles begeistern.
Da Zukunftsminister so vielseitig interessiert sind, können sie in vielen verschiedenen Berufsfeldern erfolgreich arbeiten. Überwiegend praktische oder handwerkliche Arbeiten liegen ihnen weniger, ebenso verabscheuen sie jegliche Art von Routine. Am besten sind sie auf konzeptioneller Ebene, wenn es darum geht, zukünftige Trends zu sondieren und eine neue Entwicklung anzustossen. Sie sind gute Organisations- und Investmentberater.
Zukunftsminister sind unternehmungslustig und gesellig und verfügen über einen grossen und vielfältigen Bekanntenkreis. Sie sind für so ziemlich alle Aktivitäten zu haben und lieben die Abwechslung. Ebenso gern diskutieren sie mit ihren Freunden – am liebsten kontrovers, um sich neue Perspektiven zu erschliessen.
Was im Typ des Zukunftsministers alles angelegt ist, hat Gérard Bauer im Lauf seines Lebens realisiert. Das Studium betrieb er – der Breite seiner Interessen entsprechend – in zwei Ländern und an drei Orten. Im heimatlichen Neuenburg: Jus. Dann Politikwissenschaften in Paris (Siences Po an der Ecole libre des sciences politiques) und in Genf (am Institut des Hautes Etudes Internationales). Mit seinen Abschlüssen begann er an zwei Orten auf zwei verschiedenen Tätigkeitsfeldern zu arbeiten: Zuerst ein Jahr lang in Bern als Jurist im Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartement (1936), dann zwei Jahre lang in Zürich als Sekretär an der Schweizerischen Zentrale für Handelsförderung (1937–38). Dort betraute ihn der Direktor mit einer ersten grossen Zukunftsfrage: Wie stellen wir die Schweiz auf Kriegswirtschaft um, wenn es einmal losgeht? „Und als es losging“, stellt Gérard Bauer in den „Plans Fixes“ sachlich fest, „war der Bund im Besitz aller Pläne.“
Um derart Verschiedenes leisten zu können, behielt Gérard Bauer als festen Punkt Neuenburg in seinem Leben. Von dort aus fuhr er mit dem Zug nach Paris (in der Regel nachts), Genf, Bern, Zürich, Luxemburg. Das Transportmittel, welches dem Benutzer alle Freiheit lässt (namentlich zum Konversieren, Schauen, Lesen, Nachdenken, Dösen, Schreiben, Schlafen) war für ihn so faszinierend, dass er sich im Lauf der Zeit mit den Eisenbahnern anfreundete. Wenn der Zug in Dijon neu formiert wurde, besuchte er im Stellwerk den Verkehrsleiter. Wenn in Frasne die Dampflokomotive für die Steigung nach Vallorbe mit Wasser und Kohle neu befüllt wurde, teilte er mit Führer und Heizer im nahegelegenen Bistrot eine Tasse Kaffee und ein Gläschen Cognac.
Die französischen Eisenbahner beeindruckten Gérard Bauer durch ihre Solidarität, Zuverlässigkeit und Geradlinigkeit. Sie waren zwar allesamt Kommunisten, nahmen aber den jungen Schweizer Liberalen ernst. Und der war am kontroversen Austausch interessiert, „um sich“, wie das Buch sagt, „neue Perspektiven zu erschliessen“.
In seiner Heimatstadt betrieb Gérard Bauer einen Freundeskreis, der sich mit der Frage beschäftigte, wie der Kanton zukunftstauglich zu machen sei. Neuenburg hatte wohl eine grosse Bibliothek, ein ansehnliches Kunstmuseum und eine Universität, aber diese Institutionen standen auf schwachen Füssen. „Schaut doch“, rief Gérard Bauer, „ihre Existenz verdankt sich Mäzenen aus der Unternehmerschaft. Wenn wir den Kanton voranbringen wollen, müssen wir uns wieder um die Industrie kümmern. Blosse Gelehrsamkeit genügt nicht. Das zeigen die Beispiele von Basel und Zürich. Dort werden Kultur und Universität von der Wirtschaft alimentiert.“ Kein Wunder, wurde er Vorsitzender der Suchard Holding (Interfood, 1959–79) und zahlreicher Gesellschaften, Institutionen und Stiftungen.
Zukunftsminister diskutieren leidenschaftlich gern. Sie sind begabt, ihre Argumente inhaltlich logisch sowie häufig sehr sprachgewandt zu formulieren. Sie lieben die intellektuelle Herausforderung und stellen ihre Meinung gern zur Diskussion. Nach Art der Denk-Entscheider sind sie relativ unabhängig von der Anerkennung anderer und scheuen keine Konfrontation.
Mit diesem Charakter war es nur logisch, dass es Gérard Bauer in die lokale Exekutive schaffte. Zwischen 1938 und 1945 war er zwei Legislaturen lang Gemeinderat der Stadt Neuenburg. Ausserdem sass er zwischen 1941 und 1945 für die Liberalen im Kantonsparlament.
Als der Neuenburger Politiker Max Petitpierre 1945 das Schweizer Aussenministerium übernahm, delegierte er gleich Gérard Bauer als Diplomat in die Pariser Botschaft. Dort war er bis 1958 verantwortlich für die wirtschaftlichen Beziehungen zu Frankreich. „Die Staatsverwaltung war nach dem Krieg in Paris so arm dran, dass wir unsere Schreibmaschinen und Sekretärinnen ausliehen.“ Die Schweizer Botschaft wurde von Carl Jacob Burckhardt geleitet, und einer der Mitarbeiter war > Alexandre Hay, der spätere IKRK-Präsident.
Ab 1948 vertrat Gérard Bauer zusätzlich die Schweiz in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa (der späteren OECD) und in der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion). Dort ging es um die grosse, ernste Frage, wie sich aus den vom Krieg zerstörten Ländern ein Friedenskontinent aufbauen lasse. In diesen Verhandlungen definierte Zukunftsminister Gérard Bauer die DNA des europäischen Projekts mit. Dabei erkannte er, dass die Schweiz sich ebenfalls in Bewegung setzen müsse. Wenn Europa anfing, sich neu zu ordnen und die Wirtschaft neu aufzubauen, sollte die Eidgenossenschaft nun lernen, neue Gedanken zu assimilieren. Igelstellung, Réduit und Sonderweg hatten während des Kriegs ihre Berechtigung gehabt; doch jetzt waren sie passé.
Besonders dringend war der Erneuerungsbedarf in der Uhrenindustrie. Die ausländische Konkurrenz war durch Umrüstung auf Kriegswirtschaft zugrunde gegangen. Nun genossen die Schweizer Marken eine Alleinstellung. Doch ihre korporatistische Ordnung – in den Krisenjahren von der Eidgenossenschaft geschützt – wurde zum Hemmschuh. „Stellen Sie sich vor“, erklärt Gérard Bauer, „es war einem Fabrikanten, der goldene Uhrenschalen herstellte, verboten, metallene zu produzieren!“ In einem Bericht für den Bundesrat wies er auf diesen Wettbewerbsnachteil hin. In der Folge sorgte Bern dafür, dass er das Präsidium des Verbandes der Schweizer Uhrenindustrie erhielt.
Gérard Bauer setzte seine Energie dafür ein, die Uhrenproduktion von der Feinmechanik in die Mikroelektronik zu führen. Bereits 1960, zwei Jahre nach Übernahme seiner Präsidentschaft, entstand die erste Quarzuhr. „Die Ingenieure und Arbeiter waren so tüchtig, dass ihnen die Umstellung innert sechs Monaten gelang. Aber das Unternehmertum! So träg, so verfettet! Es brauchte sechs Jahre, um das neue Uhrenmodell zu vermarkten, und in der Zeit wurde es von Japan überholt. Dort entstand die erste Quarzuhr zwei Jahre nach uns, also 1962. Aber sie kam schon 1964 auf den Markt, also zwei Jahre vor uns.“ Der Schlag warf die Schweizer Uhrenindustrie zu Boden. Zwanzig Jahre serbelte sie vor sich hin, bis ihr – dank Gerhard Thomkes Zukunftsflair und > Elmar Mocks Erfindung – das Comeback mit der Swatch gelang.
Zukunftsminister möchten innerhalb der Partnerschaft möglichst autonom sein. Sie brauchen Freiraum, für den sie sich nicht rechtfertigen wollen. Gleiches gestehen sie auch ihrem Partner zu, weil sie der Meinung sind, dass unabhängige Lebensbereiche die Beziehung beleben.
Gérard Bauers Frau Pierrette brachte es als Grafikerin und Umweltschützerin in die französische Wikipedia. Doch das ist ein Kapitel für sich. Und auch der Umstand, dass der Sohn, vom Vater ermuntert, ins Silicon Valley auswanderte und dort Karriere machte.
Zukunftsminister verfolgen sehr interessiert, wie ihre Kinder wachsen, selbständig werden und sich geistig entwickeln. Eine bestmögliche Förderung ist ihnen wesentlich wichtiger, als ihren Kindern Ordnung, starre Verhaltensregeln und gutes Benehmen beizubringen. Deswegen wachsen diese Kinder zumeist recht frei und zwanglos auf, und es stehen ihnen alle Möglichkeiten offen.