Mary Anna Barbey: Schriftstellerin, Exil und Wurzeln.

27. Juli 1936 –

 

Aufgenommen am 10. Oktober 1998 in Vufflens-le-Château.

Mary Anna Barbey – Association Films Plans-Fixes

 

> Eine freundlich lächelnde, munter plaudernde, gewinnende Frau – und dann vernimmt man, dass sie aneckte: Die Leute fühlten sich, wie es so heisst, „überfahren“ von ihr. Das Umfeld bezichtigte Mary Anna Barbey der Arroganz, der Rechthaberei und des Mangels an Bescheidenheit. Das Problem erfasste die Psychologin Felicitas von Elverfeldt mit der Frage: „Was macht ein Adler auf dem Hühnerhof?“ <

 

Mary Anna Barbey stammt aus Yale. Ihr Vater, ein hochreputierter Religionssoziologe, war Dekan der theologischen Fakultät. Er sah vor, dass die Tochter, seinem Vorbild entsprechend, eine brillante akademische Karriere hinlegen werde. Sie aber begnügte sich mit einem Lizenziat in Philosophie. Denn an einem ökumenischen Treffen hatte sie mit 22 Jahren den sympathischen jungen Waadtländer Pfarrer Clément Barbey kennengelernt. Mit ihm zog Mary Anna in die Schweiz, und sechs Monate später begann sie, seinen Familiennamen zu tragen.

 

Der Schwiegervater hatte sich der Ehe widersetzt: „Wir haben grosse Zweifel, dass sich deine Braut zur Pfarrersfrau eignet. Und ins Waadtland wird sie sich nie integrieren können.“ Diesem Widerstand zufolge legte die junge Frau, so rasch es ging, den US-Akzent ab. In den 1950er Jahren waren die Amis in der Westschweiz verhasst. „Darum erklärte ich den Leuten, ich sei in Amerika aufgewachsen, und liess sie annehmen, ich sei eigentlich Schweizerin.“ Bei der Aufnahme für die „Plans Fixes“, vierzig Jahre später, spricht Mary Anna Barbey jetzt leicht und fliessend Französisch wie ein „native speaker“.

 

Aber immer noch stellt sich das Problem des Adlers auf dem Hühnerhof. – Über einen ähnlichen Fall schreibt Felicitas von Elverfeldt:

 

Sie war zu gut und stahl den anderen leicht die Schau. Insofern entsprach sie einem Adler auf dem Hühnerhof. Die Hähne und Hühner auf dem Hühnerhof versuchten, nach aussen zu verbreiten, dass das Körnerpicken von Christine K. höchst unbefriedigend sei. Sie waren neidisch auf die Fähigkeit des Adlers, fliegen zu können. Daher versuchten sie, sie schlecht zu machen.

 

Nach Ansicht der Psychologin liegt die Lösung für eine Frau wie Christine K. oder Mary Anna Barbey:

 

Sie schafft sich ein passendes berufliches Umfeld.

 

Mary Anna Barbey schaffte sich das passende Umfeld in der Sexualberatung. Angesichts der Ahnungslosigkeit der Frommen und der Verdrängungstendenz im biederen Schweizertum war das mutig und pionierhaft zugleich. Das entschiedene Anpacken aber entsprach sowohl der amerikanischen Mentalität wie dem brillanten Vorbild des Vaters. Es ging bei der Sache, wie der Titel eines von Barbeys Büchern sagt, um den Übergang „Von den Störchen zur sexuellen Gesundheit“ (Des cigognes à la santé sexuelle).

 

Zweimal erwähnt Mary Anna Barbey, dass die schriftliche Hinterlassenschaft des Vaters, in Kartonschachteln aufbewahrt, zwölf Regalmeter umfasst. Am Ende der Reise kann sich das gedruckte Werk der Tochter danebenstellen. Es besteht aus zwei autobiografischen Titeln („Wir waren zwei Langstreckenläufer“ [Original: Nous étions deux coureurs de fond] wurde zum Bestseller), vier Romanen, einem Krimi, verschiedenen Sachbüchern und Essaybänden sowie einer Vielzahl von Zeitungsartikeln.

 

Pionierhaft war auch, dass Mary Anna Barbey 1980 die erste Schreibwerkstätte der Westschweiz eröffnete. Pionierhaft, dass sie mit heute 88 Jahren eine eigene Homepage bewirtschaftet. Und pionierhaft schliesslich, mit welcher Offenheit sie vor der Kamera über sich, ihre Arbeit und ihre Beziehungen spricht. In Kenntnis ihrer Aussenwirkung und ihres Selbstwerts reflektiert sie souverän die Gemengelage ihrer Existenz.

 

Drei Faktoren haben den Weg zur Selbsterkenntnis begünstigt: Zunächst das fiktionale Schreiben. Texte – egal, ob fremde oder eigene – erproben die Möglichkeiten des Menschseins. Eine besondere Rolle spielt in dieser Beziehung der Kriminalroman. Er fasziniert viele Dichter; etwa Friedrich Dürrenmatt, Gottfried Benn, Elfriede Jelinek, Mary Anna Barbey. Zu ihnen kommen verschiedene aufgeschlossene Literaturwissenschafter.

 

Walther Killy, Professor an den Universitäten von Berlin, Göttingen und Bern, Träger des Sigmund-Freud-Preises für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Herausgeber von Hölderlin und Trakl, Freund Celans, hat nicht nur alle Kriminalromane von Rex Stout gelesen, sondern auch den „Glocken Schlag“ (The Nine Tailors) von Dorothy L. Sayers durch ein englisch verfasstes Nachwort nobilitiert.

 

Der Kriminalroman baut die Wirklichkeit im Stil strenger Kausalität auf. Zur realistischen Erzählweise sagte Wilhelm Bölsche, Mitbegründer der „Freien Volksbühne“ und des „Friedrichshagener Dichterkreises“ 1887:

 

Jede poetische Schöpfung, die sich bemüht, die Linien des Natürlichen und Möglichen nicht zu überschreiten und die Dinge logisch sich entwickeln zu lassen, ist vom Standpunkte der Wissenschaft betrachtet nichts mehr und nichts minder als ein einfaches, in der Phantasie durchgeführtes Experiment, das Wort Experiment im buchstäblichen, wissenschaftlichen Sinne genommen.

 

Zu Mary Anna Barbeys Selbsterkenntnis trug eine rigorose Psychotherapie bei, der sie sich nach dem Tod ihres Mannes unterzog. Clément Barbey war innert weniger Monate einem aggressiven Lungenkrebs erlegen. In der Sterbephase hatte er, begleitet vom Journalisten Bernard Pichon, die Abnahme von Gesundheit und Autonomie fürs Tonband in Worte gefasst. – Als dritter Faktor zu Mary Anna Barbeys Selbst- und Menschenerkenntnis schliesslich trug die Arbeit als Sexualberaterin bei.

 

Therapie, Beratung und Schreiben erzogen sie zu jenem unerschrockenen Hinschauen und Zur-Sprache-Bringen, das viele Menschen abstösst. Aber was sagt Felicitas von Elverfeldt?

 

Meine beruflichen Gespräche sowie meine persönlichen Erfahrungen bestätigen mir, dass es vor allem darauf ankommt, ganz man selbst zu sein. Leben Sie Ihre eigene Individualität und stehen offen dazu. Nur so können Sie die passenden Menschen und Kontexte anziehen.

 

Wer mit den Hühnern gackert,

der kann nicht mit den Adlern fliegen.

 

Die Pioniere.

 

Sigmund Freud an Arthur Schnitzler:

 

Wien XI, Berggasse 19, 8. Mai 1906

 

Verehrter Herr Doktor

 

Seit vielen Jahren bin ich mir der weitreichenden Übereinstimmung bewusst, die zwischen Ihren und meinen Auffassungen mancher psychologischer und erotischer Probleme besteht, und kürzlich habe ich ja den Mut gefunden, eine solche ausdrücklich hervorzuheben (Bruchstück einer Hysterieanalyse, 1905). Ich habe mich oft verwundert gefragt, woher Sie diese oder jene geheime Kenntnis nehmen konnten, die ich mir durch mühselige Erforschung des Objektes erworben, und endlich kam ich dazu, den Dichter zu beneiden, den ich sonst bewundert [habe].

 

16 Jahre später, zu Arthur Schnitzlers 60. Geburtstag, verfasste Sigmund Freud einen zweiten Brief:

 

Wien XI, Berggasse 19, 14. Mai 1922

 

Ich will Ihnen ein Geständnis ablegen, welches Sie gütigst aus Rücksicht für mich für sich behalten und mit keinem Freunde oder Fremden teilen wollen. Ich habe mich mit der Frage gequält, warum ich eigentlich in all diesen Jahren nie den Versuch gemacht habe, Ihren Verkehr aufzusuchen und ein Gespräch mit Ihnen zu führen (wobei natürlich nicht in Betracht gezogen wird, ob Sie selbst eine solche Annäherung von mir gerne gesehen hätten).

 

Die Antwort auf diese Frage enthält das mir zu intim erscheinende Geständnis. Ich meine, ich habe Sie gemieden aus einer Art von Doppelgängerscheu. Nicht etwa, dass ich sonst so leicht geneigt wäre, mich mit einem anderen zu identifizieren oder dass ich mich über die Differenz der Begabung hinwegsetzen wollte, die mich von Ihnen trennt, sondern ich habe immer wieder, wenn ich mich in Ihre schönen Schöpfungen vertiefe, hinter deren poetischem Schein die nämlichen Voraussetzungen, Interessen und Ergebnisse zu finden geglaubt, die mir als die eigenen bekannt waren. Ihr Determinismus wie Ihre Skepsis – was die Leute Pessimismus heissen – Ihr Ergriffensein von den Wahrheiten des Unbewussten, von der Triebnatur des Menschen, Ihre Zersetzung der kulturell-konventionellen Sicherheiten, das Haften Ihrer Gedanken an der Polarität von Lieben und Sterben, das alles berührte mich mit einer unheimlichen Vertrautheit. So habe ich den Eindruck gewonnen, dass Sie durch Intuition – eigentlich aber infolge feiner Selbstwahrnehmung – alles das wissen, was ich in mühseliger Arbeit an anderen Menschen aufgedeckt habe. Ja ich glaube, im Grunde Ihres Wesens sind Sie ein psychologischer Tiefenforscher, so ehrlich unparteiisch und unerschrocken wie nur je einer war ...

 

Hundert Jahre später finden wir Mary Anna Barbey in der Familie der ehrlich Unparteiischen und Unerschrockenen. Sie ist umgeben von einer Handvoll Lesern ... wie du und ich.

 

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