1927 – 24. Januar 2013.
Aufgenommen am 27. Juni 2000 in Chêne-Bourg.
Jura Bruschweiler – Association Films Plans-Fixes
> In Körperhaltung und Gebaren signalisiert der gemütliche 73-Jährige: „Ich bin ganz für Sie da!“ Ruhig nimmt er die Gesprächsfragen entgegen, quittiert sie mit einem amüsierten Lachen, richtet den Blick nach oben und holt dann zu einer klaren, wohlproportionierten, mit Humor durchsetzten Antwort aus. Am Ende des Tages ist er eine Instanz; angekommen in souveräner Gelassenheit, ganz ohne Titel. <
„In einem österreichischen Schloss, natürlich mit Gräfin“, erzählt Jura Brüschweiler, „stellte mich die hohe Frau einem Gast vor. Der begrüsste mich mit einer Verbeugung: ‚Herr Professor!‘ Ich wehrte ab: ,Ich bin nicht Professor.‘ Er korrigierte sich: ‚Herr Doktor!‘ Ich erwiderte: ,Ich bin nicht Doktor.‘ Darauf rief er: ,Ja, was sind Sie denn?‘ ,Ich bin Schweizer.‘ Das war natürlich keine gute Antwort. Ich wollte eigentlich sagen: ‚Ich bin unabhängig.‘ Das ist mein Fall. Und darauf bin ich stolz.“
Bei einem Besuch der Saline zu Sulza fiel Goethe der junge Sohn des Salineninspektors auf, der sich dem Rundgang angeschlossen hatte. Beim Abschied unterhielt sich Goethe mit dem aufgeweckten Jüngling und fragte ihn schliesslich: „Weisst du denn auch, wer ich bin?“ – „Jawohl, der Dichter Goethe.“ Da rief aber voller Entsetzen der Salineninspektor aus: „Du dummer Junge, das wär was Rechtes! Geheimrat ist der Herr!“ Und dann bat er Goethe, die Dummheit des Knaben doch ja mit der grossen Jugend seines Sohnes entschuldigen zu wollen.
Jura Brüschweiler hat die Unabhängigkeit nicht gesucht. Sie hat sich ergeben – dadurch, dass er zurückgewiesen wurde. Zuerst von Republik und Kanton Genf, dann vom Westschweizer Fernsehen. In beiden Fällen traten die Institutionen von einer Anstellung zurück, nachdem sie gewahr geworden waren, dass er mit dem Kommunismus sympathisierte. Das war in der Zeit des kalten Kriegs verpönt. Darum konnte Jura Brüschweiler auch seinen Lebenstraum, zum Film zu kommen, nicht in den Vereinigten Staaten verwirklichen. „Geh halt nach Kanada“, riet der Vater. „Dort muss ein verschollener Bruder von mir leben. Er hat sich einst unter Zurücklassung eines Kindes aus der Schweiz abgesetzt.“
In Montreal gelandet, schlug Jura Brüschweiler das Telefonbuch auf und fand den Onkel eingetragen als Direktor des berühmtesten Hotels am Platz. Er rief ihn an und bekam gleich eine Einladung zum Abendessen: „Was kann ich für dich tun?“ „Ich möchte zum Film.“ „Das trifft sich aber gut. In ein paar Tagen kommt Otto Preminger mit seiner Crew zum Drehen. Ich will mal schauen, was ich für dich tun kann.“ Auf diese Weise wurde Jura Brüschweiler Regieassistent, und nach wenigen Tagen erhielt er Gage. Preminger rief: „Put this guy on the pay-roll!“
Darauf schrieb Jura Brüschweiler an der Universität Genf seine Diplomarbeit zum Thema: „Die Darstellung der Kunst im Film“. Durch sie kam er ans Kunstmuseum als Assistent des Direktors und widmete sich dort mit besonderem Interesse der Erforschung von Ferdinand Hodlers Werk. „Ich wollte herausfinden, aus welchem Fenster er die letzte Ansicht von Genf gemalt hatte. Dazu nahm ich mit seiner Witwe Kontakt auf. Sie empfing mich ungnädig. Hielt mich wohl für einen Juden. Sie selber bekannte sich zum Faschismus. Vor einer Wand mit einschlägigen Porträts erklärte sie: ,Damit Sie gleich wissen, mit wem Sie es zu tun haben.‘ – Ja, die Künstlerwitwen“, lacht Jura Brüschweiler, „die sind ein eigenes Kapitel!“
Berthe Hodlers Auskunft war indes nicht nur ungnädig, sondern auch unzureichend. Der junge Gast sann darum auf ein anderes Mittel: „Es gibt ja noch Notizhefte. Dürfte ich sie sehen?“ Die Witwe wandte sich an die Zofe: „Die befinden sich im Estrich. Wenn der Herr gegangen ist, tragen Sie den Karton in den Garten und verbrennen Sie ihn!“ Jetzt läuteten beim Kunsthistoriker die Alarmglocken. Er fuhr ins Museum und brachte den Direktor dazu, die Hefte durch Kauf ungesäumt zu retten.
Jura Brüschweiler stellte sein Leben fortan ungeteilt in den Dienst an Ferdinand Hodler. Gutachten und Ausstellungskataloge brachten gerade genug ein, dass er eine Familie gründen und vier Kinder durchbringen konnte. Mangels Anstellung blieb er freier Kunsthistoriker – in der Berufsgattung eine Singularität. Aber er brachte es an die Spitze. Herr Professor? Nein. Herr Doktor? Nein. Herr Brüschweiler? Ja. Ah! sehr erfreut! Sie sind ein Begriff!
Unter anderem für Wien (Secession 1962), Genf (Musée Rath) und Zürich (Helmhaus 1963), für Paris (Petit Palais), Berlin (Neue Nationalgalerie) und Zürich (Kunsthaus 1983) betreute Jura Brüschweiler die Kataloge und Ausstellungen zu Ferdinand Hodlers Werk. Seine Privatsammlung mit 85’000 Dokumenten ermöglichte ihm, Zuschreibungen zu präzisieren und zu korrigieren und bisher unbekannte Zusammenhänge zwischen Künstler und Werk ans Licht zu heben.
Wenn Jura Brüschweiler in souveräner Gelassenheit Bilder und Situationen beschreibt, spricht sein ganzer Körper mit. Die Stimme überträgt die Emotion, und der Zuschauer wird so hineingezogen, dass er das Geschilderte vor sich sieht. Unterm Erzählen beugt sich der humorvolle 73-Jährige ein paarmal nach rechts und führt ein Glas zum Mund. Dafür muss er beide Hände verwenden. Doch wird er nach der Aufnahme noch gute zwölf Jahre weiterleben.