1. Juni 1941 –
Aufgenommen am 23. März 2002 in La Côte.
Renée Auphan – Association Films Plans-Fixes
> Für den Anfang ihres 200. Films bringen die „Plans Fixes“ sich selbst ins Bild. Aus einem Gewimmel von Stativen, Beleuchtungselementen und Kabeln blicken der Aufnahmeleiter, der Tonmann und der Moderator konzentriert ins Auge der Kamera. Dann wird das Bild gedreht. Renée Auphan erscheint, an die Lehne eines Sofas gestützt, in der gleichen Haltung wie Goethe 1787 in der Campagna. Gemeinsam an beiden Persönlichkeiten ist, dass sie 23 Jahre lang Bühnen geleitet haben. Goethe das Hoftheater von Weimar, Auphan die Opernhäuser von Lausanne, Genf und Marseille. <
Renée Auphan hält nichts vom Regietheater. Leute, die sich wichtiger nehmen als das Werk, verabscheut sie. Sie verlangt eine dienende Haltung gegenüber Musik, Handlung und Sängern. Mit dieser konservativen Auffassung kommt sie beim Opernpublikum gut an; namentlich in der lateinischen Welt, wo Regietheater als „trop germanique“ abgetan wird. – Anders verhält es sich bei der Presse. „Sie lehnt mich ab“, sagt die Intendantin. Soeben hat sie in Genf gekündigt, um die Leitung des Opernhausese von Marseille zu übernehmen. „In Genf stand ich bei den Kritikern vor einer Wand. Da war nichts zu machen. Ich glaube, dass meine Persönlichkeit Anstoss erregte.“
Die Zuschauerzahlen sind das eine, die Kritik ein anderes. Als Karin Bergmann die Direktion des Burgtheaters übernahm, wurde sie gefragt, was wichtiger sei: eine hohe Publikumsauslastung oder eine gute Berichterstattung in der internationalen Presse. Sie erklärte unumwunden, die Meinung der Auslandsmedien sei vorrangig. Denn die Politiker würden von den Ausschnitten beeinflusst, die ihnen der Pressespiegel vors Auge bringe, und das wiederum wirke sich auf die Unterstützung des Ministeriums und die Subventionsbereitschaft der Republik aus.
Diese Gegebenheit brachte Hugues Gall, Direktor der Pariser Nationaloper und Vorgänger Renée Auphans in Genf, dazu, die französischen Provinzblätter zu hofieren: „Wenn die Abgeordneten sehen, wie gut wir in den Zeitungen ihres Wahlkreises wegkommen, unterstützen sie uns, auch wenn uns ‚Le Monde’ verreisst.“ Gegen „Le Monde“ aber nahm er den Kampf auf: „Da die Kritik unsere Produktionen schlecht findet und von ihrem Besuch abrät, sind Anzeigen in diesem Umfeld verlorenes Geld. Deshalb verzichtet die Pariser Oper künftig darauf, in ‚Le Monde’ zu inserieren.“
Hugues Galls Eigenständigkeit erklärt sich aus der Herkunft. Der Vater hatte als Angehöriger des bayerischen katholischen Konservativismus die Nazis bekämpft und deshalb in die Schweiz emigrieren müssen, wo er während des Zweiten Weltkriegs für den Geheimdienst arbeitete. Seine antifaschistische Rechtschaffenheit wurde für den Sohn zum Vorbild.
Renée Auphan ihrerseits kam aus sehr einfachen Verhältnissen in Marseille. Dort prägte sie die Mutter mit ihrem Pragmatismus und gesunden Menschenverstand. Sie kamen der Tochter zugut, als sie mit 19 Jahren ins Opernhaus von Marseille eintrat. Der Direktor hatte die Stelle einer Regieassistentin ausgeschrieben. Dauer des Arbeitsverhältnisses: ein Monat. „Versuch’s!“, riet die Mutter. „Du hast ja nichts zu verlieren!“
Die Tochter aber fragte sich: „Warum sollten sie gerade mich nehmen?“ und liess mit dieser Auffassung das Anstellungsgespräch verfallen. Der Direktor bestieg schon seinen Wagen, als sie sich mit einer Freundin dem Opernhaus näherte. Da rannte die Begleiterin aufs Auto zu, hielt es auf, und Renée vernahm: „Wir haben uns für Sie entschieden.“ Von der Regieassistenz wuchs sie in die Inspizienz hinein (régisseur de plateau), und als „administrateur artistique“ kam sie in die Betriebsleitung der Oper von Monte Carlo.
Als der Direktor der Pariser Opéra Comique darum bat, an ihrem Haus ein Vorsingen durchführen zu dürfen, organisierte Renée Auphan den Raum, den Klavierspieler und die Flugtickets. Doch die Sängerin erschien nicht zum Termin. Ihr Flug war ausgefallen. Schulterzuckend sagte der Theatermann zur Betriebschefin: „Ich habe gehört, dass Sie zu Ihrem Vergnügen am Konservatorium Stunden nehmen. Da wir schon beisammen sind: Singen Sie uns doch etwas vor!“
Unbeschwert präsentierte Renée Auphan ein paar Arien. Nachdem sie mit ihrem Repertoire durch war, erklärte der Pariser: „Wenn Sie wollen, können Sie im Herbst bei mir anfangen.“ Renée Auphan fragte den Chef, was er davon halte. Er erwiderte: „Ich habe dir nichts zu raten.“ Die Mutter aber rief: „Du spinnst!“ (Tu es folle!) Doch am nächsten Tag sagte sich die Tochter: „Ich habe ja nichts zu verlieren. Ich versuch’s!“ So kam sie als Sopranistin nach Paris.
Als Rolf Liebermann die Pariser Nationaloper übernahm und das Ensemble von sechzig auf fünf Sänger reduzierte, gehörte Renée Auphan zu den Auserwählten. In der Doppelnummer 16/17 der Fachzeitschrift „ L’Avant-Scène“ von 1984 ist die 35-Jährige als Fiordiligi auf einem Szenenfoto zu „Cosi fan tutte“ abgebildet. Sieben Jahre später wird sie die Direktorin und Neuschöpferin der Lausanner Oper.
Man sagte mir zuweilen, ich sei nicht wirklich Sängerin. Und es stimmt. Als Sängerin muss man egozentrisch sein. Man darf nur an sich, seine Stimme und seine Rolle denken. Da ich aber vom Management herkam, nahm ich stets auch wahr, was im Betrieb alles nicht stimmte, und ärgerte mich daran. Als mich eine chronische Erkältung ein Jahr lang am Singen hinderte, bewarb ich mich auf Rat meines Mannes, einem Schweizer, um die Leitung des Festivals von Lausanne. Den Behörden legte ich von Anfang an die Karten auf den Tisch und sagte, ich wolle aus dem Théâtre Municipal, in dem nur noch Gastspiele gegeben wurden, ein vollgültiges Opernhaus machen. Die Stadt war einverstanden, mit Genf in Konkurrenz zu treten, und so entstand l’Opéra de Lausanne.
In der Waadtländer Kantonshauptstadt brachte Renée Auphan manches Wunder zustande. Zunächst einmal schaffte sie es, mit einer tüchtigen Sekretärin zusammen den Betrieb aufzubauen. Es fehlte ja an allem, vornehmlich Bühnenarbeitern und Korrepetitoren. Dann mussten die Künstler engagiert werden, und zwar solche, die eine Zukunft hatten. Die dreissigjährigen Regisseure Robert Carsen, Moshe Leiser und Patrice Caurier traten von Lausanne aus ihre Weltkarriere an. Heute, vierzig Jahre später, findet man ihre Inszenierungen in New York, London, Paris und Wien. Rückblickend sagt Renée Auphan:
Ich habe keine Kinder, weil mein Beruf so anspruchsvoll und zeitaufwendig war, dass er keinen Platz für etwas anderes liess. Aber ich habe kleine Samen gestreut, indem ich Talente begleitete, auf die ich heute sehr stolz bin.
Renée Auphan leitete nach elf Jahren Lausanne noch die Opernhäuser von Genf und Marseille. Im Alter von 67 zog sie sich an den Genfersee zurück und übernahm das Präsidium der Maurice-Béjart-Stiftung, das sie heute, mit 84, immer noch versieht:
Das Alter und der körperliche Verfall ärgern mich sehr, zumal ich mich in meinem Kopf immer noch wie dreissig fühle! Wenn ich freie Hand hätte, würde ich eine Schule leiten, um jungen Künstlern alles beizubringen und weiterzugeben, was ich weiss.
Zu diesem Thema vermerkte der gelehrte Erasmus von Rotterdam:
Im Zusammenhang damit, dass im Alter die körperlichen Fähigkeiten zurückgingen, die Weisheit aber zunehme, erwähnt der heilige Hieronymus in einem Brief den Philosophen Theophrast, der – als er mit über 107 Jahren starb – gesagt haben soll, er bedaure es, dass er gerade in dem Alter sterben müsse, wo er Vernunft angenommen habe.