Maurice Cosandey: Prof. Dr. h.c. – Präsident des ETHL-Rats 1978–1987.

8. Februar 1918 – 4. Dezember 2018.

 

Aufgenommen am 16. Juni 1990 in  Lausanne.

Maurice Cosandey – Association Films Plans-Fixes

 

> Der Mann wurde Oberst der Schweizer Armee, dann Artilleriechef. Er wurde Chefingenieur, dann stellvertretender Direktor der grossen Metallbaufirma Zwahlen & Mayr SA Lausanne. Er wurde Professor für Stahl- und Holzbau an der ETH Lausanne, dann deren Präsident und am Ende Präsident des schweizerischen Schulrats, also des Leitungsorgans der eidgenössischen technischen Hochschulen. Das Gespräch mit ihm aber verläuft so trocken wie sein Eintrag im „Historischen Lexikon der Schweiz“. Dadurch wird das Gespräch mit Maurice Cosandey zum irritierenden Rätsel. <

 

Maurice Cosandey kann auf eine grosse Karriere zurückblicken. Sie brachte ihm 1978 eine Ehrenprofessur und 1989 einen Ehrendoktor ein. Trotzdem verläuft am 12. Juni 1990 die Begegnung mit ihm weder beeindruckend noch spannend. Bertil Galland, der Gesprächsleiter, und Maurice Cosandey, der Porträtierte, sorgen aus unterschiedlichen Gründen dafür, dass man während der Befragung nur an, aber nicht in die Sachen sieht. So ergibt sich eine enttäuschend fade Begegnung.

 

Vertiefen, problematisieren, Verborgenes zum Vorschein bringen ist Bertil Gallands Sache nicht. Er begnügt sich damit, eine lockere Atmosphäre herzustellen, in der ein Prominenter durch munteres Zuspielen von Stichworten Auskunft über seine Leistungen gibt. Dabei gehen die Ausführungen oft in die breite Oberflächlichkeit: „Erzählen Sie uns etwas über die Firma Zwahlen!“ Man vernimmt dann, dass das Familienunternehmen in der Belle Epoque Eisenbrüstungen für die Hotelpaläste am Genfersee herstellte, nach dem Zweiten Weltkrieg aber aus Gründen der Generationenproblematik den Anschluss an die Moderne nicht richtig schaffte. Ausnahme: das technische Büro. Eingerichtet von Maurice Cosandey, war es in der Lage, die Flugzeughallen von Kloten und Cointrin zu bauen. Der Vizedirektor war eben schon Professor für Stahl- und Holzbau an der ETH Lausanne.

 

Man vernimmt in der Folge, dass Maurice Cosandey die Leitung seiner Hochschule angeboten erhielt, die damals noch Ecole polytechnique universitaire de Lausanne (EPUL) hiess und eine kantonale Institution war. Der neue Direktor aber sah für ihre Zukunft nur eine Chance, wenn sie die Eidgenossenschaft als Trägerin bekam. Bundesrat Hans Peter Tschudi, der Innenminister, fragte: „Eilt es?“ „Ja.“ „Dann müssen Sie sich im gegebenen Rahmen bewegen.“ – In diesem Rahmen entwickelte sich darauf die ETH Lausanne unter dem Präsidenten Maurice Cosandey. Man vernimmt, dass die Hochschule eine Departementsstruktur erhielt, dass Cosandey ein Institut mit zwei Lehrstühlen für Materialwissenschaften schuf und dass er die Zukunft in der Mikrotechnik und Mikroelektronik sah. Nie vernimmt man indes, wie der Befragte die verschiedenen Etappen seiner Karriere erlebte.

 

In den „Plans Fixes“ präsentiert er sich als Macher, aber nicht als Mensch. Der Eindruck entsteht durch die Mitteilungsart: Maurice Cosandey erzählt nicht, sondern er informiert. Beim Informieren bleibt die Person ausgeblendet, wogegen sie sich beim Erzählen einbringt. Auf diese Weise bekommt Film Nummer 80 der Sammlung paradigmatischen Charakter. Er zeigt, ,„warum die religiösen und die künstlerischen Kulturen auf die Nachwelt kommen und warum die rein wissenschaftlichen Zeitalter nur eine vorübergehende Vitalität besitzen“. – Egon Friedell:

 

Die Wissenschaft verbessert die allgemeine Ökonomie des Daseins; sie entdeckt einige neue Gesetze, die geeignet sind, die Gleichung des Lebens ein bisschen zu vereinfachen; sie macht den Planeten zu einem komfortableren und weniger strapaziösen Aufenthalt: aber wir nehmen ihre Gaben hin wie Brot und Äpfel, mit einer gewissen animalischen Genugtuung, jedoch ohne in eine höhere Geistesverfassung zu geraten und den Antrieb zu einer reicheren Seelentätigkeit zu empfangen. Die reellen Resultate des menschlichen Geistes, seine Funde und Treffer enthalten nichts Tonisierendes, nichts, was unser Eigenleben steigert. Wir „legen sie uns zu“: unsere Berührung mit ihnen ist der Vorgang einer blossen Addition, nicht einer Multiplikation oder Potenzierung. Die Schöpfungen der Kunst und Religion dagegen, die die Maschine des Lebens keineswegs vervollkommnet haben, sondern sich darauf beschränken, die an sich schon so zweideutige Angelegenheit des Daseins noch mehr zu verwickeln und das sichere Lebensgefühl, auf dem der Mensch von Natur ruht, zu erschüttern, haben dennoch immer über ein geheimnisvolles geistiges Energiekapital verfügt: Sie sind wie Wein, der unsere Moleküle zwingt, in lebhaftere Schwingungen zu geraten, neue Blutwellen zum Kopfe führt und unseren gesamten Kreislauf beschleunigt.

 

So hat es ganze Zeitalter gegeben, die fade schmecken gleich chemisch reinem Wasser: Sie sind uns zu destilliert, zu „abgeklärt“, wir finden sie ungeniessbar. Damit ein Zeitalter auch der Nachwelt noch etwas zu sagen habe, muss es eine lebendige Quelle sein, die nicht bloss die allgemeinen Elemente des Wassers enthält, sondern auch allerlei salzige, unlösliche Bestandteile, die ihm erst Körper, Aroma und Farbe verleihen.

 

Maurice Cosandey erklärt, er habe schon mit elf Jahren gewusst, dass es aus ihm einen Ingenieur geben werde. Damals lebte er unglücklich unter der Stiefmutter, die der Vater ins Haus gebracht hatte. Die leibliche Mutter hatte er mit acht Jahren verloren. Das fatale Ereignis riss alle Erinnerungen mit sich. Seitdem weiss Maurice Cosandey nicht mehr, was er bis zum achten Altersjahr erlebt hat. Er weiss hingegen noch, dass er sich unglücklich fühlte, bis er mit zwanzig Irène, Tochter des Polizisten Armand Jauslin, kennenlernte, die er acht Jahre später heiratete.

 

Sooft es ging, verbrachte er die Zeit bis zu 22 Jahren bei der Grossmutter und half in deren Bauernbetrieb mit. Er muss da eine fraglose Geborgenheit gefunden haben. Gustave Roud, der Dichter des Haut-Jorat, der ursprungsnahen Region des Kantons Waadt, hat sie besungen:

 

Ich denke daran, während ich auf einer sanften Oktoberwiese liege. Mein Freund belud dort einen Wagen mit diesem leichten Emd, das der Wind gerne mit den Haaren des Laders vermischt, um es an seine brennende nackte Schulter zu kleben. Und diese bekannte Arbeit, diese immer gleichen Bewegungen, das Anhalten der Pferde, ihr Vorwärtsgehen, das Werfen, das Zurückziehen der Harke, die leere Heugabel, die volle und hochgereckte Heugabel, alles spielte sich vor dem Hintergrund des dunklen Laubs ab wie eine Art langsamer und perfekter Tanz, aus dem jede Abweichung des Rhythmus verbannt war.

 

J’y songe, étendu sur une douce prairie d’octobre. Mon ami y chargeait un char de ce léger regain que le vent s’amuse à mêler aux cheveux du chargeur, à coller à sa brûlante épaule nue. Et ce travail connu, ces mouvements toujours les mêmes, l’arrêt des chevaux, leur avance, le jet, le retrait du râteau, la fourche vide, la fourche pleine et brandie, tout se déroulait sur le fond d’obscur feuillage comme une sorte de danse lente et parfaite d’où tout écart de rythme étaient banni.

 

Die Wortkargheit jener versunkenen Welt – man vernimmt sie jetzt in der Stille hinter den Sätzen des angesehenen Mannes. Doch sein Wesen bringt er nicht zur Sprache. Das muss man erraten.

 

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