2 Januar 1927 – 6 April 2005.
Aufgenommen am 3. Februar 1993 in Lutry.
André Luy – Association Films Plans-Fixes
> Auf einem Klavierstuhl sitzt der 66-jährige Organist André Luy. Bescheiden beantwortet er Bertil Gallands Fragen, der aus einem Fauteuil zu ihm hinunterblickt. Meistens genügt ein Satz. „Wie war Victor Desarzens?“ „Zugleich genial und verrückt.“ „Wie fühlten sie sich, als sie in Hamburg auf Bachs Orgel spielten?“ „Klein.“ „Wie hiess Ihre Klavierlehrerin in Saint-Imier?“ „Madame von Allmen, die Mutter von Zouc.“ „Wie viele Predigten haben Sie gehört?“ „Viertausend.“ Auf diese Weise entsteht ein Sammelsurium enzyklopädischer Daten, doch kein spannendes Gespräch und kein substantielles Porträt. <
Seit einem Jahr bezieht André Luy die AHV. Hinter ihm liegt ein Leben als Organist und Orgellehrer. Wer wissen will, wie viele Schüler er hatte und an welchen Kirchen sie wiederum Organist wurden, bekommt Auskunft in der gefilmten Befragung aus dem Jahr 1993. Dort vernimmt man auch, wer damals der angesehenste Pfarrer von Lausanne war: Roussy. Seine Predigten dauerten nur zehn bis zwölf Minuten, machten aber einen tiefen Eindruck. André Luy: „Sein Geheimnis war, die Leute in den ersten zehn Sekunden zu packen. Er sagte: ‚Wenn das nicht gelingt, brauchen die Hörer fünf Minuten, um hineinzukommen.’ Dieses Rezept“, erklärt der Organist“, „kann man auch auf die Musik übertragen“.
Der Pfarrer Roussy – wem sagt der Name noch etwas? Und wer kann noch etwas mit Lüthi anfangen, dem einzigen nicht-fiktiven Namen in Dürrenmatts Klassiker „Der Richter und sein Henker“?
Er ging unruhig in den Lauben vor der Kathedrale auf und ab. Endlich öffneten sich die Portale. Der Strom der Menschen war gewaltig, Lüthi hatte gepredigt. Sie gingen die Kesslergasse hinauf, mitten im Schwarm der Kirchgänger, umgeben von alten und jungen Leuten, hier ein Professor, da eine sonntäglich herausgeputzte Bäckersfrau, dort zwei Studenten mit einem Mädchen, einige Dutzend Beamte, Lehrer, alle sauber, alle gewaschen, alle hungrig, alle sich auf ein besseres Essen freuend.
Ein volles Münster. Studenten, Beamte, Lehrer. Ein Professor. Und nach dem Predigtbesuch der Sonntagsbraten. Verhältnisse von gestern.
2023 hat die Zahl der Kirchenaustritte in der Schweiz ein Rekordhoch erreicht.
- Katholische Kirche: 67’497 Austritte – fast doppelt so viele wie im Vorjahr (2022: 34’561).
- Evangelisch-reformierte Kirche: 39’517 Austritte, ebenfalls ein deutlicher Anstieg gegenüber 2022 (30’393).
In Verhältnissen, die so drastisch ins Rutschen gekommen sind, spiegelt André Luys Porträt, gleich ernüchternd, die Halbwertszeit des Wissens. Der Begriff stammt ursprünglich aus der Physik, wird aber heute ebenfalls verwendet, um zu beschreiben, wie schnell Wissen veraltet – also die Zeitspanne, nach der die Hälfte eines Wissensbestands nicht mehr aktuell oder relevant ist.
- IT-Wissen: 2 Jahre
- Technologiewissen: 3 Jahre
- Berufliches Fachwissen: 5 Jahre
- Hochschulwissen: 10 Jahre
Und jetzt die Probe aufs Exempel: Wen bezeichnen die Namen Pierre-Alain Clerc, Michel Bignens, Philippe Laubscher, François Gerber, Anne-Lise Vuilleumier, Michael Felix, Bernhard Schneider und Andreas Cavelius?
Richtig! Es handelt um eine Auswahl jener Schüler von André Luy, die es zum Titularorganisten einer Kirche gebracht haben. Bertil Galland hat sie erfragt – nebst hundert weiteren Namen, Fakten, Details. Auf diese Weise brachte er ein Sammelsurium enzyklopädischer Daten zustande, doch kein spannendes Gespräch und kein substantielles Porträt.
„Das wahrhaft epische Kompositionsprinzip ist die einfache Addition. Im Kleinen wie im Grossen werden selbständige Teile zusammengesetzt. Die Addition geht immer weiter. Dabei droht jene Langeweile, die zum Beispiel Herder bei allen Epen zu empfinden bekannte.“ Emil Staiger: „Grundbegriffe der Poetik“. Die Weisheit der Alten. Halbwertszeit null.