12. Dezember 1901 – 14. Juli 1996.
Aufgenommen am 10. Juni 1990 auf Schloss Brunegg.
Jean Rodolphe de Salis – Association Films Plans-Fixes
> Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde der 39-jährige Jean Rudolf von Salis zur Instanz. Nachdem die deutschen Truppen Europa erobert hatten, war er mit seiner „Weltchronik“ im Äther die letzte glaubwürdige Stimme. Als Schweizer gehörte er zu keiner Kriegspartei. Als Geschichtsprofessor an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich verkörperte er die objektive Sicht der Wissenschaft. Nun schilderte er Woche für Woche die Lage der Dinge, und der schweizerische Landessender Beromünster trug auf Mittelwelle seine sachlichen Darlegungen weit über die Grenzen der Schweiz hinaus. Nach dem Krieg dankten ihm die Menschen in den vormals besetzten Ländern überschwenglich: „Sie haben uns durchhalten helfen!“ <
Der Auftrag war von oben gekommen: 1940 hatte Bundesrat Marcel Pilet-Golaz für Jean Rudolf von Salis einen Sendeplatz im Radiostudio Zürich und eine Sendezeit im Programm des schweizerischen Landessenders verfügt. Der Gelehrte sollte für die Schweiz und Europa die aussenpolitischen Ereignisse aus neutraler Sicht einordnen und analysieren. Doch frei war er nicht. Die Manuskripte unterlagen der Zensur durch den Bundesrat.
Inzwischen ist ein halbes Jahrhundert vergangen. Im Juni 1990 wird der 89-jährige Professor, Historiker und Schriftsteller vom Filmteam der „Plans Fixes“ auf seinem Schloss Brunegg bei Lenzburg besucht. Im 13. Jahrhundert wurde die Festung von den Hamburgern erbaut. 1815 kam sie zur Familie, und 1945 übernahm sie Jean Rudolf von Salis. Jetzt sitzt er an einem einfachen Holztisch. Vor ihm liegen eine Pfeife, ein Stopfer und eine kleine 50 g-Dose mit feinem Tabak – die Insignien des freien, selbständigen Intellektuellen, wie sie zu jener Zeit auch Barth, Frisch, Dürrenmatt, Andersch, Grass, Sartre, > Im Hof, Killy, Steiner, Hart-Nibbrig und ihre Adepten vor sich her trugen. Hinter einem kleinen, viereckigen Fenster bewegen sich Blätter im Wind. An der Wand steht eine Ritterrüstung. Der hochbetagte Gelehrte aus südbündnerischem Uradel gibt Auskunft über die Epochen seines langen, vielgestaltigen Lebens.
Aufgewachsen ist er zweisprachig im Berner Patriziermilieu. Französisch geht ihm so leicht über die Lippen wie Berndeutsch und Schriftdeutsch, für die er das R mit dem Zäpfchen rollt, wie sich das für die Angehörigen der burgerlichen Geschlechter schickt. Er zählt seine Studienorte auf: Bern, Montpellier, Paris, Berlin. Seine Universitätslehrer: de Reynold, Seignobos, Meinecke. Die Namen haben ihren Klang bis heute behalten. Seine Freunde: Rilke, Thomas Mann, Dürrenmatt, Frisch. Seine Tätigkeiten: Zwischen 1925 und 1935 Berichterstattung über das kulturelle und politische Leben in Paris für den „Bund“ und die „Weltwoche“, von 1935 bis 1968 Professor für Geschichte an der ETH Zürich, daneben zwischen 1952 und 1964 Präsident der Kulturstiftung Pro Helvetia.
Unablässig rauschen Namen vorbei: Strawinsky, Giraudoux, Copeau, Churchill, de Gaulle, Adenauer, Schmidt, Saint-Hélier, Pourtalès, Sismondi, Mme de Staël, Camus, Shakespeare – alle begleitet von einem Satz, durch den der Gelehrte angibt, wie er zu ihm steht. Thomas Mann: Familienfreundschaft. Dürrenmatt: Gleiche Philosophie. Frisch: Gutes Verhältnis trotz notorisch schwierigem Charakter. Schopenhauer: grosser Philosoph, kann aber erst im Alter gewürdigt werden.
Wer sich die Mühe nähme, alle Namen, Orte und Begriffe aufzuspiessen und dem, wofür sie stehen, nachzugehen, könnte nach vier Semestern das Nebenfach europäische Kulturgeschichte glanzvoll abschliessen. Wem aber die Namen, Orte und Begriffe nichts sagen, kann mit von Salis’ Äusserungen nicht das Geringste anfangen, und das Vernommene rinnt durchs Sieb.
Schuld an der Unergiebigkeit ist der Befrager Pierre Ducrey, seines Zeichens Professor der Archäologie und Rektor der Universität Lausanne. Wenn er von Salis unterbricht, so nur, um ein neues Kapitel zu eröffnen, nicht aber, um Angetipptes zu vertiefen. Und dabei stelle man sich eine Kindhheit in der Berner Altstadt zwischen 1901 und 1914 vor! Wie war sie? Hatte der Bub Geschwister? Ein Kindermädchen? Wie kam er mit ihnen aus? Wie mit den Eltern? Hatte er Freunde? Was haben sie zusammen gespielt? Wie ging’s in der Schule zu?
Und dann das Hauptkapitel: Die Weltchronik! Wie lief der Kontakt zwischen dem Chronisten und den Bundesbehörden? Übers Telefon oder durch Mittelsmänner? Woher bekam von Salis die Informationen? Bereitete sie ihm jemand vor? Worauf achte er bei der Abfassung der Sendemanuskripte? Welche Rolle spielte die Zensur? Sprach er die Texte live? Oder war das für den Bundesrat zu riskant?
Und schliesslich die Sinekure an der ETH: Keine Prüfungen zu leiten! Keine Semesterarbeiten zu korrigieren! Keine Seminare zu geben! Nur zwei Vorlesungsstunden zu halten! Daneben viel Zeit: Zum Schreiben von Büchern; zum Pflegen von Freundschaften; zum Empfangen von Gästen auf Schloss Brunegg; zum Präsidieren der Pro Helvetia; zum Abholen von Ehrendoktoraten in Genf, Wien, Hamburg und Lausanne; zur Entgegennahme von Preisen wie dem Literaturpreis der Stadt Bern; dem Aargauer Literaturpreis; dem Kulturpreis der Stadt Zürich; dem Kulturpreis des Kantons Graubünden; dem Preis der Académie Française; dem Grossen Silbernen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich; dem Offiziersdiplom der französischen Ehrenlegion; dem grosse Verdienstkreuz mit Stern der Bundesrepublik Deutschland.
Wie viel liegt hinter Jean Rudolf von Salis! Und in den „Plans Fixes“ bekommt es keine Gestalt. Ein Jammer! Ach ja:
Multum, non multa.
Viel, nicht vielerlei, d.h. in die Tiefe, nicht in die Breite.
(Georg Büchmann: Geflügelte Worte.)