Catherine Louis: Illustratorin. Überraschungen hervorrufen.

14. Juni 1963 –

 

Aufgenommen am 2. Juli 2020 in La Chaux-de-Fonds.

http://www.plansfixes.ch/films/catherine-louis/

 

> In ihrer dreissigjährigen Karriere hat Catherine Louis über 130 Kinderbücher illustriert. Jetzt kann sie von dieser Tätigkeit nicht mehr leben. Kamen einst in Frankreich pro Jahr 350 Titel für Kinder auf den Markt, so sind es nun über 18’000. Dementsprechend ist die Auflagenhöhe geschrumpft, und mit ihr das Einkommen der Illustratorin. Sie macht trotzdem weiter. „Ich kann sonst nichts anderes.“ <

 

Catherine Louis gehört zu jenen Künstlern, die nicht suchen, sondern finden. Sie kann nicht sagen, woher sie ihre Ideen hat. Sie sind einfach da. Damit geht es ihr gleich wie Goethe, der auch ein intuitiv Schaffender war. Zu Eckermann sagte er:

 

Jede Erfindung, jeder grosse Gedanke, der Früchte bringt und Folge hat, steht in niemandes Gewalt und ist über aller irdischen Macht erhaben. Dergleichen hat der Mensch als unverhoffte Geschenke von oben, als reine Kinder Gottes zu betrachten.

 

Um die Inspiration (wörtlich: Einhauchung) zu beschleunigen bzw. zu deblockieren, greifen Künstler gern zu Hilfsmitteln. „Sehr oft“, erklärte Goethe, habe er sich in der Schwierigkeit befunden, „bei gewissen komplizierten Zuständen zu keinem rechten Entschluss kommen zu können. Trank ich aber in solchen Fällen einige Gläser Wein, so war es mir sogleich klar, was zu tun sei, und ich war auf der Stelle entschieden.“

 

Auch Catherine Louis, Winzerstochter aus Neuenstadt am Bielersee (der Vater führte die Berner Staatskellerei) benötigt Flüssigkeit, um in Fahrt zu kommen. Doch ihr Mittel besteht nicht aus Spiritus. Für die Illustratorin genügt ein Tropf Farbe. Sobald der aufs Blatt kommt, fangen Hand und Pinsel schon an, damit zu spielen. Staunend sieht nun die Künstlerin – und staunend sehen auch die Betrachter ihres Porträts in den „Plans Fixes“ – wie sich durch die Verlängerung des Kleckses eigenwillige Figuren auf dem Blatt zu formen beginnen. Die lässt Catherine Louis einfach hervortreten, ohne mit dem Verstand einzugreifen, und aus diesen Gebilden erwächst der Bildgedanke.

 

Kommt die Produktion ins Stocken, muss man, erklärte Goethe, die Flaute hinnehmen wie das schlechte Wetter. „Mein Rat ist, nichts zu forcieren, und alle unproduktiven Tage und Stunden lieber zu vertändeln und zu verschlafen, als in solchen Tagen etwas machen zu wollen, woran man später keine Freude hat.“ In solchen Momenten tritt Catherine Louis jeweils vors Atelier, das sich mitten in La Chaux-de-Fonds befindet. Sie braucht nur ein paar Schritte zu gehen, um in belebten Cafés ihre Freunde zu finden, allesamt Künstler, die ihr mit ihrer Konversation helfen, zum kreativen Problem Abstand zu gewinnen und den Knoten zu lösen. 

 

Es liegen ferner, führt Goethe aus, „produktivmachende Kräfte in der Ruhe und im Schlaf; sie liegen aber auch in der Bewegung. Es liegen solche Kräfte im Wasser und ganz besonders in der Atmosphäre. Die frische Luft des freien Feldes ist der eigentliche Ort, wo wir hingehören; es ist, als ob der Geist Gottes dort den Menschen unmittelbar anwehte und eine göttliche Kraft ihren Einfluss ausübte. Lord Byron, der täglich mehrere Stunden im Freien lebte, bald zu Pferde am Strande des Meeres reitend, bald im Boote segelnd oder rudernd, dann sich im Meere badend und seine Körperkraft im Schwimmen übend, war einer der produktivsten Menschen, die je gelebt haben.

 

Um Neues zu finden, wechselt Catherine Louis gern ins nahgelegene Frankreich. Dort steht ihre zweite Werkstatt. Sie muss sich jedesmal überlegen, welches Material sie mitnimmt. Dabei erfährt sie, was Igor Strawinsky in die Worte gefasst hat: „Je mehr ich mich einschränke, desto grösser wird meine Freiheit.“ Eine ähnliche Erfahrung hat der Romanautor Roland Donzé gemacht. Wenn er beim Schreiben nicht weiterkam, stellte er sich ein technisches Problem. Das half. Bei Catherine Louis liegt das technische Problem oft beim fehlenden Werkzeug. Der Mangel verlangt kreative Umwege, und die führen zu Neuem und Überraschendem.

 

Wichtig ist, nicht dem Grübeln zu verfallen. Goethe: „Ich verlor mich einmal über das andere, da mir, in dieser Zerstreuung, keine ästhetischen Arbeiten gelingen wollten, in ästhetische Spekulationen; wie denn alles Theoretisieren auf Mangel oder Stockung von Produktionskraft hindeutet.“ Dem Künstler aber ist mit dem Theoretisieren nicht geholfen. Er braucht ein schlichtes „Mach das!“ oder „Mach’s so!“

 

Das hat Catherine Louis erfahren, als sie sich nach fünfjähriger Ausbildung an der Kunstgewerbeschule Biel in Strassburg weiterbildete. Dort wollte sie über ihr zeichnerisches Ungenügen verzweifeln. Doch der Lehrer sagte ihr: „Leg den Bleistift weg! Der lähmt dich bloss. Nimm einen Pinsel oder mal mit den Fingern!“ Dank dieser Anleitung, erzählt Catherine Louis, fand sie zu ihrem Ausdruck.

 

Je pragmatischer ein Künstler zum andern spricht, desto besser. Theodor Fontane, selbst ein eminenter Schriftsteller, schildert mit Bewunderung, wie der grösste Bildhauer des deutschen Klassizismus, Gottfried Schadow (Schöpfer der Quadriga auf dem Brandenburger Tor), seinen Unterricht an der Berliner Kunstakademie gestaltet hat: „Ein Achtziger schon, aber immer noch ein Mann aus dem Vollen, schreitet langsam von Platz zu Platz, und nur dann und wann bleibt er stehen und blickt musternd über die Schulter der Zeichnenden. ‚Det is jut‘, sagt er dem einen und klopft ihm, als Zoll der Anerkennung, mit seiner mächtigen Hand auf den Kopf. ‚Det is nischt‘, sagt er zu dem andern und geht weiter.“

 

Das Talent, du mein Gott, das erkennt Schadow mit einem Blick:

 

„Herr Direktor, hier ist einer von den Lucaes nebenan; er will in die Gipsklasse; aber nichts ist in Ordnung.“

„So, so“, brummelt der Alte, hebt den Augenschirm halb in die Höh, mustert den jungen Aspiranten der Gipsklasse und sagt dann: „I det is ja Richard.“

Der Angeredete verbeugt sich zustimmend.

„Höre Richard, sage doch Muttern, der letzte Kuchen war wieder sehr jut. Aber vergiss’t nicht.“

Die Professoren, längst an Intermezzos dieser und ähnlicher Art gewöhnt, lächeln behaglich vor sich hin, wie wenn sie sagen wollten: „Ganz im Stil des Alten“, und nur Stabfuss beisst sich auf die Lippen, denn er ahnt, dass seinem Ansehen eine grosse Niederlage bevorstehe.

„Na Richard“, fährt der Alte fort. „Du wist also in de Gipsklasse?“

„Ja, Herr Direktor.“

„Haste denn ooch Lust?“

„Ja, Herr Direktor.“

„Hast’ ooch schon gezeechnet?“

„Ja, Herr Direktor.“

„Na, denn zeechne mal’n Ohr; aber aus’n Kopp. Stabfuss, geben Se mal Papier her un’n Bleistift.“

Der Angeredete gehorcht mit süsssaurem Gesicht.

„So. Na nu setz’de dir hier an’n Disch un zeechenst.“

Unser junger Aspirant tut wie befohlen, zeichnet ein Ohr und überreicht es dem neben ihm stehenden Stabfuss. Dieser, in begreiflicherweise höchst kritischer Laune, beginnt zu mäkeln, aber seine Geschicke vollziehen sich unabwendlich.

„Geben Se mal her“, unterbricht ihn der Alte, klappt den grünen Schirm abermals in die Höh, befühlt und beguckt das Papier von allen vier Seiten und sagt dann: „Stabfuss, bedenken Se – aus’n Kopp. Det Ohr is jut. Schreiben Se’n man in.“

Und so kam Richard Lucae in die Gipsklasse.

 

Später, so berichtet Fontane, wurde Richard Lucae „selber ein Direktor“ (der Bauakademie).

 

Catherine Louis’ Talent nun erkennt der Zuschauer ihres Porträts in den „Plans Fixes“ mit einem Blick. Ein paarmal werden farbige Standfotos in den schwarz-weissen Film geschnitten. Sie zeigen Proben aus den verschiedenen Epochen der Illustratorin. Die Bilder sind so überraschend und so anrührend, dass man dem Film entgegenrufen möchte: „Verweile doch, du bist so schön!“ (Goethe)

 

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