Michel Corboz: Die Stimmen, meine Leidenschaft.

14. Februar 1934 –

 

Aufgenommen am 26. Februar 2000 in Lausanne.

http://www.plansfixes.ch/films/luc-chessex/

 

> „Das muss man spüren!“, rief seinerzeit unser Deutschlehrer immer wieder in die Klasse. Immer wieder erhebt auch Michel Corboz diese Forderung bei den Proben mit dem Ensemble vocal de Lausanne. Durch Sensibilisierung treibt er den Chor zu Spitzenleistungen. Für das Label Erato entstehen über 120 Platten. Einige werden zu Referenzaufnahmen. <

 

Am 10. März 1986 bringt das Grand Théâtre de Genève in Koproduktion mit dem Festival d’Aix-en-Provence „La Favola d’Orfeo“ zur Premiere. Libretto: Alessandro Striggio. Musik: Claudio Monteverdi. Am Pult: Michel Corboz. Für den „Orfeo“-Film von Claude Goretta hat er bereits die Tonspur produziert und beim Label Erato auf CD herausgebracht. Es handelt sich um eine Einspielung von seltener Klugheit und Differenziertheit. Ihre Vorzüge sind im Genfer Opernhaus wiederzufinden.

 

Der Sender Freies Berlin berichtet:

 

Wie stets bei Corboz durchglüht ein intensiver Gestaltungswille die Partitur, und in der Phrasierung verfolgt der Barockspezialist die feinsten Nuancen im Ablauf des Dramas. Besonders eindrücklich der Moment, als Orpheus vernimmt, dass Eurydike gestorben sei. Auf die Nachricht folgen schmerzhaft lange Generalpausen. Dem Tod antwortet die Stille. Und dann, ganz langsam und verhalten, steigt in Orpheus der Schmerz auf. Kein Gesang ist’s, was man da hört, sondern bloss ein leises Stöhnen.

 

Michel Corboz dirigiert hier ganz bewusst gegen die Tradition: Gegen die Operntradition des 19. Jahrhunderts, die den Moment der Erschütterung mit Fortissimo-Ausbrüchen zu unterstreichen suchte; und er dirigiert gegen die Tradition des Genfer Grand Théâtre, indem er das Pianissimo bis an die Grenzen des Hörbaren treibt und damit das Publikum zwingt, mit gespannter Aufmerksamkeit die musikalische Entwicklung zu verfolgen.

 

14 Jahre nach dem Ereignis erklärt Michel Corboz in den „Plans Fixes“, wie er es zuwege bringt, Sänger und Instrumentalisten immer wieder zu musikalischen Ausnahme-Momenten zu führen. Er gelte ja doch, stellt der Interviewer fest, als „unmöglicher Dirigent“. Während Antoine Bosshard diese Feststellung trifft, laufen verschiedene Reaktionen über Corboz’ Gesicht. Sie verraten, was in ihm vorgeht: Aufsteigendes Gefühl wird gebändigt durch abwägendes Urteil. Und das Gemisch von Fakten und Emotionen mündet in Nachdenklichkeit ein. Nun erscheint auf Corboz’ Gesicht ein Lächeln: „Sie haben recht.“

 

Unmöglich, erklärt er, seien ja schon die Forderungen, die die Musik stellt. Sie will – jedenfalls in den Werken, die Michel Corboz und das Ensemble vocal de Lausanne zur Aufführung bringen – stets zum Letzten und Höchsten führen, das dem Menschen begegnen kann. Um das vernehmbar zu machen, braucht es mehr als Technik, Metier, Intellekt und Begabung. Es braucht Intuition, Offenheit und Beweglichkeit – kurz, Gespür für das, worauf das Werk hinauswill.

 

Zu dem Zweck muss der Dirigent die seelischen Verkrustungen aufbrechen. Er muss die Sänger aus der Reserve herauspeitschen, damit sie sich mit vollem Einsatz bemühen, die Schönheit und Tiefe, die sie in den Proben erfahren und erkannt haben, wiederzugeben. Der „unmögliche“ Dirigent meint dazu: „Mit Ungeduld kommt man weiter als mit Geduld.“

 

In der Ausübung der musikalischen Kunst findet sich bei Michel Corboz die Auffassung, die Thomas Bernhard dem legendären Schauspieler Bernhard Minetti in den Mund gelegt hat:

 

Der wahre Künstler mein Kind hat sich den Wahnsinn

seiner Kunst zur Methode gemacht

mag die Welt denken und schreiben was sie will

Er darf nur kein Angsthase sein

Künstler sein

Niemals die Frage

ob etwas statthaft ist oder nicht niemals

 

Auf dem Weg der Steigerung kommt der Künstler der Vollkommenheit nahe. „Vollkommenheit eines einzelnen Menschen ist also“, erklärte Johann Gottfried Herder, „dass er im Kontinuum seiner Existenz er selbst sei und werde. Dass er die Kräfte brauche, die die Natur ihm als Stammgut gegeben hat; dass er damit für sich und andre wuchere.“

 

Für sich und andre wuchern. 2014, vierzehn Jahre nach dem Gespräch für die „Plans Fixes“, dirigiert Michel Corboz mit achtzig noch das Ensemble vocal de Lausanne und die Warschauer Symphoniker am Festival „La Folle Journée de Nantes“. Zur Aufführung kommt das Requiem von Mozart. ARTE überträgt es live. Bei YouTube ist es nachzuhören.

 

In der Kommentarspalte findet sich dazu von unbekannter Hand: „Maestro Corboz’ Beherrschung von Dynamik, Farbe, ehrfurchtsvollen Momenten von reinster himmlischer Glückseligkeit und alledem ist unübertrefflich, und was für ein Sopran! Nicht zu vergessen die anderen ebenso exzellenten Solisten; grossartiges Ensemble und überwältigender Chor. Merci!“ (Maestro Corboz’s control of dynamics, color, reverential moments of pure heavenly bliss and such is second to none, and what a soprano! Mustn’t forget the other equally excellent soloists, superb ensemble and tremendous choir. Merci.)

 

Das muss man spüren.

 

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