Dr. Alfredo Vannotti: Professor für Innere Medizin – Lausanne 1937–1973.

11. August 1907 – 28. August 2002.

 

Aufgenommen am 20. September 1988 in Glion.

Dr Alfredo Vannotti – Association Plans Fixes

 

> Der französische Originaleintrag im „Historischen Lexikon der Schweiz“ schliesst mit den Worten: „Bedeutende Persönlichkeit“ (personnalité majeure). Zu dieser Feststellung kommt auch der Betrachter des Porträts in den „Plans Fixes“. Alfredo Vannotti hat eine ungemein gewinnende, schlichte, gerade Art. Sie zeigt an, dass er es nicht nötig hat, gross zu tun. Er ist gross. <

 

In den 1960er Jahren fiel Roland Donzé, dem Philologieprofessor an der Universität Bern, auf, dass die Afrikaner das bessere Französisch sprachen als die Franzosen. Der Grund: Sie waren nicht mit den Floskeln aufgewachsen, hinter denen die „native speakers“ ihre Gedankenleere verbergen. Deshalb hatte das Gesagte bei ihnen jene schlichte, gerade, fassliche Form, mit der man einen Inhalt so korrekt wie möglich wiederzugeben sucht. Kam dazu, dass sich die Afrikaner in Vokabular und Satzbau nicht an der auf der Strasse gesprochenen Sprache orientierten, sondern an der von den grossen Autoren in den Büchern geschriebenen. Diese Umstände machten die Rede auf dem schwarzen Kontinent reiner und klassischer als in Frankreich.

 

Dasselbe Phänomen zeigt sich beim Gespräch mit Alfredo Vannotti in den „Plans Fixes“. Als er 1935 als Klinikleiter nach Lausanne berufen wurde, konnte er kein Französisch (mit Ausnahme der Brocken, die vom Unterricht am Mailänder Gymnasium übriggeblieben waren). Deutsch ja. Er hatte in Zürich studiert und dann seine Assistenzjahre in Bern aufgenommen. Trotz dieses Mangels erkundigte sich nun Lausanne nach der Persönlichkeit des Kandidaten. Professor Frey entgegnete: „Ich gebe Ihnen keine Auskunft. Ich will nämlich nicht, dass Sie mir den besten Mitarbeiter abwerben.“

 

„Eine wirksamere Empfehlung hätte er nicht aussprechen können“, stellt Alfredo Vannotti fest. Das Problem der fehlenden Französisch­kenntnisse aber blieb ungelöst. Mit Hilfe eines welschen Kollegen lernte er auf die Schnelle, für das Vorstellungsgespräch beim Gesundheitsminister wenigstens „Oui, Monsieur le conseiller d’Etat“ und „Non, Monsieur le conseiller d’Etat“ zu sagen. Mit diesen Sätzen ausgerüstet, trat er dem künftigen Brotherrn gegenüber.

 

Doch nach wenigen Minuten unterbrach der Staatsrat die Befragung: „‚Oui, Monsieur le conseiller d’Etat – Non, Monsieur le conseiller d’Etat’ – Können Sie eigentlich kein Französisch?“ „Non, Monsieur le conseiller d’Etat.“ „Nun, Sie werden Zeit genug haben, es zu lernen“, sagte der Politiker ungerührt und installierte den 28-jährigen Alfredo Vannotti als Direktor an der medizinischen Poliklinik des Lausanner Universitätsspitals. Dort wurde er mit 30 ausserordentlicher und mit 37 ordentlicher Professor für Innere Medizin.

 

Während Alfredo Vannotti davon erzählt, zeigt er eine schlichte, einnehmende Menschlichkeit (vielleicht seiner Tessiner Herkunft geschuldet; die Familie stammt aus Bedigliora). Mit ihr erreicht er die Menschen und gestaltet sie um. Das ist schon Professor Frey aufgefallen. Zum Abschied sagte er: „Indem Sie am Institut dauernd Ferienstimmung verbreitet haben, haben Sie die Sitten sanfter gemacht und mir wohl getan.“

 

Professor Frey war eben von der deutschen Schule geprägt worden, und die war infiziert vom preussischen Drill. Bereits als sich Alfredo Vannotti in Zürich zum Studieren niedergelassen hatte, hatte er angefangen, sich der teutonischen Selbst­gerechtigkeit zu widersetzen. Denn in der Limmatstadt lautete die Devise: „Bei uns macht man das so!“ Durch diese Rechthaberei wurde der Tessiner zum sanften Revolutionär. Und dieser Charakterzug wiederum stellte ihn an die Spitze der medizinischen Entwicklung.

 

Mit 29 Jahren erhielt er den Marcel-Benoist-Preis für seine Forschung über die Porphyrie (eine damals noch weitgehend unbekannte Gruppe von Stoffwechselkrankheiten). Mit 40 wurde er Direktor der Abteilung für experimentelle Forschung am Westschweizer Anti-Krebs-Zentrum. „Er bildete“, sagt das „Historische Lexikon der Schweiz“, „eine ganze Generation von Forschern und Klinikern in den verschiedenen Spezialgebieten der inneren Medizin aus und hatte damit grossen Einfluss auf die Medizin in der Schweiz der Nachkriegszeit.“

 

Im Film stellt der Medizinhistoriker Guy Saudan fest, dass er die Waadtländer an seinen Spitälern intensiv gefördert habe. „Aus Dankbarkeit“, erklärt Alfredo Vannotti. „Ich wollte dem Landesteil, der so viel für mich gemacht hat, etwas zurückgeben. Und dann erinnerte ich mich an die Herablassung, mit der in meiner Studienzeit die Deutsch­schweizer auf die Welschen heruntergeblickt hatten. Denen wollte ich zeigen, zu welchen Leistungen die Menschen hier fähig sind.“

 

Wenn Alfredo Vannotti so spricht, zeigt er ein freundliches, gelöstes Lächeln. Kenneth Clark nannte es in „Civilisation“, seiner Kulturgeschichte, „the smile of reason“. Die menschenfreundliche Vernunft ist „immer auch mit Billigkeit [Gefühl fürs Rechte] und Güte verbunden“, führte Johann Gottfried Herder 1793 aus. „Vernunft und Güte sind die beiden Pole, um deren Achse sich die Kugel der Humanität beweget.“

 

Die Achse, welche Vernunft und Güte verbindet, sieht Alfredo Vannotti heute durch die überbordende Technisierung der Medizin gefährdet. „Als ich meine Abschiedsvorlesung hielt“, führt er aus, „sagte ich zu den Studenten: ‚Am liebsten möchte ich mich zu Ihnen setzen, um wieder Medizin zu studieren.’ Heute nicht mehr. Die Spezialisierung hat dazu geführt, dass hinter der Beschäftigung mit den Krankheitselementen der Mensch verschwunden ist. Ich habe selber dazu beigetragen.“ Jetzt, meint der 80-jährige, müsse man das Gewicht verstärkt auf die therapeutische Gesamtschau und die bioethische Verantwortung legen, damit der medizinische Fortschritt nicht unmenschlich werde. – Herder: „Wo Vernunft und Güte einander entgegengesetzt scheinen, da ist’s mit einer oder dem andern nicht richtig.“

 

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