Jeanne-Odette Evard: Textilkünstlerin.

12. Oktober 1930 –

 

Aufgenommen am 9. November 2010 in Le Cerneux-Péquignot.

Jeanne-Odette Evard – Association Plans Fixes

 

> Die Frau an seiner Seite. Sogar Alain Tanner hat sie übersehen – oder, in ihren Augen, nicht gebührend gewürdigt –, als er das Paar aufsuchte, um einen Film über ... den Mann (!) zu drehen: „La vie comme ça“ (1970). „Es war mein Fehler“, sagt die 80-jährige rückblickend zum Zeitpunkt der Aufnahme für die „Plans Fixes“ (2010). „Ich hätte mich stärker durchsetzen sollen“. Doch unabhängig von aller Bescheidenheit: Sie hat ein Meisterwerk geschaffen. <

 

Jeanne-Odette Vaucher hat ihren Mann in der ersten Klasse kennengelernt. Sie erinnert sich: Der Junge hasste die Lehrerin. Sie war ihm zu streng, zu autoritär. Als Mädchen kam Jeanne-Odette mit der Schule besser zurecht. Sie hatte daneben ihr Reich: die Werkstätten der Bieler Handwerker. Dort war sie glücklich. Das Material faszinierte sie. Der Stein. Das Holz. Das Metall.

 

Jean-Claude Evard sah sich als Künstler. Er nannte sich Claudévard und besuchte die kunstgewerbliche Abteilung des Technikums Biel. Daneben war er vom Theaterfieber gepackt. Er brachte eine Reihe von Aufführungen mit Gleichaltrigen zuwege. Bei diesen Projekten kamen Jeanne-Odette und Jean-Claude wieder zusammen, und „die zufällige Hochzeit der Namen“ (Jean Paul) führte zur Ehe.

 

1954, also im Alter von 24 Jahren, zogen die beiden in den Neuenburger Jura, wo er, bis heute, am wildesten und unberührtesten ist. Die weite, gewellte Landschaft gleicht den Freibergen und öffnet mit ihrem Licht Herz und Sinne. Zuerst liess sich das Paar in La Brévine nieder, dann zog es, fünf Jahre später, ins 300-Seelen-Dorf daneben, nach Le Cerneux-Péquignot, ins Haus Village 17.

 

Ausschlaggebend für die Wahl der Gegend war der Umstand, dass dort das Leben, dank der Abgeschiedenheit, fast nichts kostet. Darum bildeten La Brévine und Le Cerneux-Péquignot die Alternative zu Paris oder der Camargue. Claudévard erzielte anfänglich sein Einkommen aus verschiedenen Kunstpreisen. Dann erhielt er 1955, 1956 und 1958 ein eidgenössisches Kunststipendium. Von 1962 bis 1972 arbeitete er am Théâtre Populaire Romand als Bühnen- und Kostümbildner.

 

Die Frau an seiner Seite sorgte sich derweil um Haushalt und Kinder (drei). „Ich weiss nicht, wie ich das damals gemacht habe“, sagt sie rückblickend. Die beiden Eheleute verstanden sich nämlich künstlerisch als Paar. Sie signierten mit Claudévard und Jeanne-Odette.

 

Nach dem Putzen, Erziehen und Kochen stieg Jeanne-Odette in jeder freien Minute unters Dach zum Weben – oft auch nachts. Ein Teppich von 8 × 3 m verlangte ein Jahr Arbeit. Es war die Zeit, als für die Kunst am Bau gern Wandteppiche bestellt wurden (auch als Schallschutz gegen das unange­nehme Flatterecho in den Betonräumen des architektonischen Brutalismus).

 

Jean-Claude machte die Entwürfe, Jeanne-Odette setzte sie um: „Im Technischen liess er mir alle Freiheit. Ich verstand, was er wollte, und fand Mittel, es zu realisieren. Dabei kam mir zugute, dass ich das Handwerk nie gelernt habe; sonst hätte ich gesagt: Was du verlangst, ist unmöglich. So aber erfand ich Um- und Nebenwege.“

 

Jeanne-Odette wurde auf diese Weise selber zur Meisterin textiler Strukturen. Sie wob monumentale Wandteppiche für das Collège des Endroits in La Chaux-de-Fonds, die Fabriques de Tabac Réunies in Serrières-Neuchâtel und das kantonale Technikum von Le Locle. Dabei wurde sie in ihren Gebilden immer mutiger, ohne angeben zu können, wie sie entstanden. „Ich mache einfach die Sachen“, sagt sie bescheiden.

 

1972 bestellt der Direktor des ethnographischen Museums von Neuenburg Jean Gabus bei Jeanne-Odette eine textile Plastik für seine Ausstellung „Polen – Theater und Gesellschaft“. Sie soll „Shakespeare spielen“ ausdrücken. Der polnische Künstler, der das Objekt hätte liefern sollen, ist in Ungnade gefallen. Jetzt kommt der Ersatz aus Le Cerneux-Péquignot. Aber typisch: Im Katalog ist die Skulptur nicht erwähnt; auch nicht der Name der Künstlerin.

 

Die Darstellung einer Rose wurde verlangt. Und die Darstellung von Blut. Jeanne-Odette liefert eine überwältigende Skulptur. Mit der Evidenz einer Ikone ergreift sie den Kern von Shakespeares Tragödien dergestalt, dass man davor erschauert und verstummt. Eigentlich gehörte „Shakespeare spielen“ ins Getty Museum. Aber dafür müsste jemand in New York zuerst Französisch können und das Porträt von Jeanne-Odette Evard in den „Plans Fixes“ bis zum zweitletzten Bild anschauen.

 

Jeanne-Odette jedoch kann sich sagen: „Und wenn ich nur das gemacht hätte – mein Leben hätte sich gelohnt.“ Ihre Skulptur bestätigt Egon Friedells Beobachtung: „Jeder Künstler ist ein höchst ausgeprägtes Ich, eine singuläre Apperzeptionsform. Er sieht die Dinge so, wie sie niemand sieht. Aber diese seine Gesichte sind keine Halluzinationen und Sinnestäuschungen, sondern bisher unentdeckte Wirklichkeiten. Seine Beobachtungen sind subjektive Wahrheiten: subjektiv, weil sie von einem vereinzelten Individuum ausgehen, und Wahrheiten, weil sie sich auf Realitäten beziehen. ... Der Dichter versteht das Leben besser als alle anderen, aber ebendarum versteht er auch, dass das Leben im letzten Sinne unverständlich und unauflösbar ist.“

 

In „Shakespeare spielen“ hat Jeanne-Odette genau das zur Darstellung gebracht. Es macht ihre Skulptur zum Meisterwerk.

 

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